Sachsens große Unbekannte : Chemnitz will raus aus dem Schattendasein und rein ins Rampenlicht
Chemnitz ist eine der Kulturhauptstädte Europas 2025. Ein Besuch in der sächsischen Industriestadt, die mit Ideenreichtum versucht, ihr negatives Image abzuschütteln
Es waren einige Tage, an denen Graziela Hennig ihren Laptop abends etwas ratlos zuklappte: Seit zehn Jahren wirbt die gebürtige Rumänin für Chemnitz – dafür, dass junge Menschen aus ganz Europa in die Stadt kommen. Fünf Plätze für einen Europäischen Freiwilligendienst gibt es jedes Jahr bei der solaris Förderzentrum für Jugend und Umwelt gGmbH Sachsen (solaris FZU). Dort ist Hennig für die internationale Arbeit zuständig. „Wir haben die Plätze mit der Kulturhauptstadt beworben, aber ich musste trotzdem um jeden einzelnen jungen Menschen kämpfen“, berichtet sie vom vergangenen Jahr. Junge Chemnitzer, die sich an solaris FZU wenden, um für einen Freiwilligendienst ins Ausland zu gehen, sind ohnehin rar. Und auch die, die nach Chemnitz kommen wollen, müssen oft erst überzeugt werden. Nach dem ersten digitalen Kennenlernen würden viele googeln, wo die Stadt überhaupt liegt – und stoßen dabei schnell auf Schlagzeilen über rechtsextreme Ausschreitungen: „The Return of the ugly German“ oder „A stronghold of Germany’s far-right“ lesen sie dann. Keine hilfreiche Werbung.
Vier Freiwilligenplätze, etwa in den solaris Jugend- und Umweltwerkstätten, im Erlebnispädagogischen Zentrum oder im Mehrgenerationenhaus (MGH) hat solaris FZU inzwischen besetzt bekommen. Im MGH im Stadtteil Kappel läuft vieles zusammen, was im Viertel passiert. Hier klingt vor allem Hoffnung durch: Dass die Kulturhauptstadt neuen Schwung bringt, dass ein anderes Bild der Stadt entsteht. Da sind etwa die 25-jährige Helena aus Madrid, die im September mit ihrem Van angereist ist, und Paula (26) aus Iasi in Rumänien, die für ein Jahr in Chemnitz bleiben. Beide sagen, sie fühlen sich willkommen in der Stadt, haben schöne Orte entdeckt und freuen sich auf die nächsten Monate. Eine hübsche Stadt sei Chemnitz aber nicht unbedingt, sagt Helena. Und: Man müsse sich aktiv bemühen, mit jungen Menschen in Kontakt zu kommen – die Kultur der Menschen wirke auf sie eher verschlossen.
Europäische Freiwillige in der Kulturhauptstadt (von links): Gustavs aus Lettland, Helena aus Spanien und Paula aus Rumänien im Dezember vor dem Mehrgenerationenhaus im Stadtteil Kappel.
Diesem Eindruck wollen die Macher von Chemnitz 2025 in den kommenden Monaten entgegenwirken: Nach West-Berlin (1988), Weimar (1999) und der Metropolregion Ruhr (2010) ist die sächsische Industriestadt die vierte deutsche „Kulturhauptstadt Europas“. Das Programm wurde 1985 auf Initiative der griechischen Kulturministerin Melina Mercouri ins Leben gerufen. Seit 2007 wird der Titel jedes Jahr an zwei Städte oder Regionen verliehen. Nicht nur sollen die Vielfalt und Gemeinsamkeiten der europäischen Kulturen damit gestärkt werden; auch sollen die Orte die Chance bekommen, sich neu zu erfinden.
Der "Purple Path": Wenn Kunst Geschichte erzählt
Zusammen mit Chemnitz trägt in diesem Jahr die grenzüberschreitende slowenisch-italienische Stadt Nova Gorica und Gorizia den Titel. In Chemnitz wird das Kulturhauptstadtjahr am 18. Januar mit der feierlichen Eröffnung eingeläutet. Bis Ende November erwartet die Besucher dann ein Veranstaltungsmix aus Hoch- und Alltagskultur zwischen Jugendstil, Industrie- und DDR-Architektur.
Auch die vom Bergbau geprägte Region mit Mittelsachsen, dem Erzgebirge und dem Zwickauer Land ist Teil der Kulturhauptstadt. So verbindet der Kunst- und Skulpturenweg „Purple Path“ ab Anfang April die Stadt mit 38 Orten zeitgenössischer Kunst in den Kommunen des Umlands.
Die aus Bronze gegossene abstrakte Skulptur 'Stack' des Bildhauers Tony Cragg im Kurpark Bad Schlema steht in direkter Nachbarschaft zum ehemaligen Wismut-Schacht 7b, aus dem seit 1947 Uranerz gefördert wurde.
Installationen von lokalen und international bekannten Künstlern wie dem britischen Bildhauer Tony Cragg im Kurpark Aue-Bad Schlema erzählen von den Menschen, dem Handwerk und der Industrie der Region. Der Skulpturenweg gehört als größtes Projekt der Kulturhauptstadt zur Leitlinie „In Bewegung“. Die vier weiteren Dimensionen „Europäische Macher:innen der Demokratie“, „Osteuropäische Mentalität“, „Großzügige Nachbarschaft“ sowie „Macher:innen“ laden ein, die Stadt und wenig bekannte Seiten der Region, die von Wandel geprägt ist, zu entdecken.
Vergangenheit zwischen Wohlstand und Zerstörung
Passenderweise lautet das Motto „C the Unseen“- sieh das Ungesehene! Denn: Die drittgrößte Stadt Sachsens hat niemand so richtig auf dem Schirm. Historisch sei es in Sachsen so gewesen, dass in Dresden der Hof, in Leipzig der Handel und in Chemnitz die Arbeit beheimatet war, erzählt Stadtführerin Ramona Wagner. Sie bemühe dieses Klischee ungern, aber es sei etwas Wahres daran.
Die studierte Ingenieurin lebt und arbeitet seit 1980 in der 250.000-Einwohner-Stadt und bietet Führungen durch die Kulturhauptstadt an. „Im 19. Jahrhundert hat sich die Stadt zu einer der bedeutendsten Industriestandorte Deutschlands entwickelt, vor allem der Maschinenbau ist hier stark gewesen“, erzählt Wagner. Es gab auch eine bedeutende Textilindustrie. „Sächsisches Manchester“ sei die Stadt gar genannt worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem große Teile der Innenstadt und der Betriebe zerstört wurden, wurde die Stadt in Karl-Marx-Stadt umbenannt und als sozialistische Musterstadt wieder aufgebaut. Nach der Deindustrialisierung der Nachwendejahre gilt Chemnitz heute wieder als einer der führenden Forschungs- und Entwicklungsstandorte für Mikrosystemtechnik, Sensorik, Textilforschung, aber auch für Wasserstoff-Mobilität.
Wie Chemnitz aus dem Schattendasein heraustreten will
Chemnitz hatte sich im Rennen um den Titel im Jahr 2020 gegen die Mitbewerber Nürnberg, Hannover, Magdeburg und Hildesheim durchgesetzt. Viele Engagierte wollen die Stadt mit dem Kulturhauptstadtjahr aus dem Schattendasein herausbringen. Sie als lebendigen und gastfreundlichen Ort im Osten Deutschlands präsentieren. Andere Chemnitzer sind zurückhaltender, fühlen sich nicht mitgenommen, verstehen Teile des Programms nicht. Hinzu kommt: Rechtsextremistische Gruppen wie die „Freien Sachsen“ haben Proteste rund um die Eröffnung angekündigt.
Die Stadt hadert mit ihrem negativen Image, seit sie im Spätsommer 2018 durch gewalttätige Ausschreitungen nach einem tödlichen Messerangriff in die Schlagzeilen geraten war. Rechte hatten damals unter anderem Menschen mit einem vermeintlichen Migrationshintergrund angegriffen, und die Stadt zu einem Symbol rechter Gewalt gemacht. Zahlreiche Chemnitzer wollten das nicht hinnehmen und gründeten das „Kosmos“-Kulturfestival für Toleranz und Weltoffenheit. Das Demokratiefest mit Konzerten, Ausstellungen und Diskussionen besteht bis heute. Viele der (jungen) Macher aus dem Gemeinschaftsprojekt bringen sich auch bei der Kulturhauptstadt ein.
Jung und Alt werden bei der Kulturhauptstadt besonders einbezogen
Wie viele Städte im Osten leidet aber auch Chemnitz unter der Abwanderung junger Menschen. Dass sich daran langfristig etwas ändert, dazu will das „Team Generationen“ der Kulturhauptstadt beitragen, wie Lena Rothe berichtet. Laut einer Jugendumfrage der Stadt vom Frühjahr 2023 planen nur 22 Prozent der Jugendlichen, in Chemnitz zu bleiben. Da setze man an: „Im Projekt ‚Create.U‘ werden junge Menschen von der Idee bis zur Umsetzung darin unterstützt, eigene Kulturprojekte zu entwickeln, die dann Teil der Kulturhauptstadt werden“, sagt Rothe. Mentoren sind als „der kritische Freund“ an ihrer Seite. Dahinter stehe die Idee, die eigene Stadt durch Selbstwirksamkeit neu zu entdecken und die Fähigkeiten zu vermitteln, über das Titeljahr hinaus eigene Projekte zu organisieren.
Ein Projekt von Jugendlichen etwa will über mehr Kunst im öffentlichen Raum das Stadtbild verändern und Stromkästen in Chemnitz und dem Unland kreativ gestalten. „Das Team Generationen wurde ins Leben gerufen, um junge und ältere Menschen aktiv in das Programm einzubinden und ihre Perspektiven stärker zu berücksichtigen“, erklärt Rothe.
Ansprechen wollen sie auch Jugendliche, die noch nicht so gut vernetzt sind. Dafür gehen sie in Schulen und zu Veranstaltungen, organisieren donnerstags einen offenen Treff. Jugendliche im ländlichen Raum zu erreichen, bleibe jedoch eine Herausforderung: Ein Großteil der rund 50 teilnehmenden 14- bis 27-Jährigen komme aus der Stadt. Auch deshalb wünschen sie sich noch mehr Interesse am Programm und einen gewissen Ansteckungseffekt nach der Eröffnung.
Zwei Millionen Besucher werden in Chemnitz erwartet
Auf einen Push für das Selbstbewusstsein der Stadt und internationale Besucher hofft auch Gästeführerin Ramona Wagner. Die Veranstalter rechnen mit zwei Millionen Besuchern. „Ich hatte noch nie so früh so viele Buchungen für das Folgejahr wie für 2025“, erzählt die 67-Jährige zu Beginn ihrer Tour am Chemnitzer Schillerplatz. Den Tag der Titelverleihung, den 28. Oktober 2020, „ein Mittwoch um die Mittagszeit“, werde sie bis an ihr Lebensende nicht vergessen. „Es soll nicht pathetisch klingen, aber ich musste mit den Tränen kämpfen, als die Juryvorsitzende die Karte mit der Aufschrift ‚Chemnitz‘ umgedreht hat“, erinnert sie sich.
Ihre Kulturhauptstadt-Touren habe sie vor allem für die Chemnitzer entwickelt, um zu zeigen, was sich in der Stadt tut, berichtet sie, während die Tramlinie 3 an der sozialistischen Innenstadtbebauung der 1960er und 1970er Jahre vorbeifährt. Im Sommer mit dem Fahrrad, im Winter mit Straßenbahn und Bus führt Wagner Besucher zu den so genannten Interventionsflächen, Infrastrukturvorhaben für die Stadtgemeinschaft. 30 solcher Flächen entstehen im gesamten Stadtgebiet. Sie werden Chemnitz über das Kulturhauptstadtjahr hinaus erhalten bleiben – ein „60-Millionen-Euro-Infrastrukturprojekt für Chemnitz“ nennt es Ramona Wagner.
Die aufwändig sanierte letzte Fabrikhalle aus dem Imperium des Chemnitzer Lokomotivkönigs Richard Hartmann dient der Kulturhauptstadt als Besucherzentrum.
Zu den größeren Interventionsflächen zählt etwa das Ensemble Karl Schmidt-Rottluff, die sanierte Mühle und das Landhaus. Dort soll das deutschlandweit erste Museum über den expressionistischen Maler, Grafiker und Plastiker (1884- 1976), der zu den berühmtesten Söhnen der Stadt gehört, eröffnen. Ein anderes Beispiel ist die Stadtwirtschaft im alten Arbeiterviertel Sonnenberg. Der ehemalige Sitz der Abfallwirtschaft soll künftig eine Mischung aus Kreativen beherbergen. Weitere kleinere Flächen verteilen sich über das gesamte Stadtgebiet und die nach 1990 eingemeindeten Vororte: „Für diese 16 Interventionsflächen standen jeweils 325.000 Euro zur Verfügung, über die die Menschen vor Ort selbst entscheiden konnten“, berichtet Wagner. So entstanden bereits ein neuer Festplatz, eine ausgebaute Schulaula oder eine Kultur- und Freizeitfläche mit Platz für eine Bühne, zum Grillen oder für Urban Gardening.
Blick hinter die Garagentore und in Biografien
Auf langfristige Verbindungen setzen sie auch im Mehrgenerationenhaus in Kappel: Bei den Freiwilligen sitzen bei einer Tasse Tee die Senioren Uwe Wirkner und Barbara Edler. In einem Projekt zu Digitalisierung und Nachhaltigkeit überwinden sie hier einmal im Monat kochend (kulinarische) Grenzen, denken über Umweltfragen nach oder tauschen sich per Video-Chat mit Senioren aus Frankreich und Bulgarien über Rezepte aus. Wirkner und Edler freuen sich über das europäische Flair im MGH und in der Stadt. Edler ist Mitinitiatorin des Chemnitzer Sprachencafés, das jeden Freitag 20 Nationen zusammenbringt. Sie berichtet, dass sich schon etliche Freunde für einen Besuch in diesem Jahr angekündigt haben. Wirkner sieht im Titeljahr „eine Riesenchance, die es nur einmal gibt“, das schlechte Image loszuwerden.
Kultur aus der Garage: Einige Garagenhöfe aus DDR-Zeiten sollen während des Kulturhauptstadtjahres mit Festen, Konzerten und Kunstaktionen zu Orten der Begegnung werden.
Der gebürtige Chemnitzer engagiert sich im Projekt „#3000Garagen“, das Menschen und ihre Geschichten mit und in den Garagen ins Rampenlicht rücken will: Rund 30.000 Garagen wurden zu DDR-Zeiten von den Bürgern in der Stadt gebaut. „Jeder wollte damals eine Garage haben, das war wie ein Haus“, erinnert sich Wirkner. Genutzt wurden sie nicht nur als Abstellplatz für Autos, sondern auch als Treffpunkt. Von den Garagenbesitzern und ihren Orten der Begegnung erzählen Porträts der Fotografin Maria Sturm: Sie werden derzeit in 50 Schaufenstern von Geschäften in der Innenstadt gezeigt. Gesammelt sollen die Porträts ab Mai auf dem ehemaligen Betriebshof der Chemnitzer Verkehrs-AG ausgestellt werden: Der „Garagen-Campus“ im Stadtteil Kappel, auch eine Interventionsfläche, soll ab März zu einem Ort für Tüftler und Bastler werden.
Einige der Garagenhöfe sollen mit Festen, Konzerten und Workshops als Gemeinschaftsorte aktiviert werden. Auch die Garagengemeinschaft von Uwe Wirkner ist mit dabei: Der 72-Jährige hat sichtlich Freude daran, Fremden „sein“ Garagenviertel, den Bauabschnitt 5, zu zeigen. „Man hat damals die Garage genommen, die verfügbar war – egal wo“, erzählt Wirkner. Auf seinen Trabant habe er zehn Jahre gewartet. Es freut ihn, dass die Tradition, sich gemeinschaftlich um die Garagen zu kümmern, weiterlebt. „Die meisten basteln hier an ihren Motorrädern oder Oldtimern, manche haben auch eine kleine Werkstatt oder einen Partyraum mit Sofa und einer Shisha-Pfeife“, erzählt er beim Rundgang. 90 Euro betrage die Pacht bei ihnen für eine Garage – im Jahr.
Garagen als Kulturschatz: Weitere Projekte dazu sind geplant
Und was bewahrt er in seiner Garage auf? „Ich bin gelernter Koch und habe 48 Jahre bei MITROPA gearbeitet. Seit meiner Lehrzeit sammle ich das Geschirr und alte Gegenstände – die Garage ist voll davon“, verrät Wirkner. Dass die Öffentlichkeit das auch zu Gesicht bekommt, ist sein nächstes Projekt. Die Gespräche für eine MITROPA-Ausstellung im Industriemuseum nach dem Kulturhauptstadtjahr laufen schon, berichtet er.
Viele der Projekte zeigen, dass das Kulturhauptstadtjahr langfristig Spuren hinterlassen soll – in den Köpfen, der Stadt und ihrer Infrastruktur. Und doch fragen sich einige Chemnitzer schon heute, wie nachhaltig der Effekt sein wird. Barbara Edler etwa setzt ein Fragezeichen dahinter, ob ein Jahr ausreicht, um die Mentalität vieler Einwohner zu verändern und junge Leute in der Stadt zu halten. Auch Graziela Hennig hat Sorge, dass die Euphorie nach dem Kulturhauptstadtjahr wieder abebbt. Vor allem, wenn die Fördergelder nicht mehr da sind. Doch die Arbeit mit den europäischen Freiwilligen gibt ihr auch Grund zur Hoffnung: Dass es möglich ist, Brücken zu bauen – zwischen Generationen, Kulturen und den Perspektiven, die Chemnitz ausmachen.
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