Ost-West-Debatte : Verstetigung der ostdeutschen Eigenarten
In seinem Buch "Ungleich vereint" prognostiziert der Soziologe Steffen Mau auch langfristig einen ostdeutschen Sonderweg.
Wächst wirklich zusammen, was zusammengehört, wie einst Altkanzler Willy Brandt nach dem Mauerfall hoffte? Der Soziologe Steffen Mau widerspricht, Ostdeutschland bleibe auf Dauer anders. Nach der Europawahl im Juni zeigte die Landkarte ein eindeutiges Bild: Nahezu vollständig blau eingefärbt war das Gebiet der ehemaligen DDR, Gewinner der Wahlkreise fast immer die AfD. CDU-dominiert mit vereinzelten grünen und roten Punkten in Groß- und Universitätsstädten präsentierte sich dagegen die alte Bundesrepublik.
Mau will nicht als "ostdeutscher Soziologe" etikettiert werden
"Ungleich vereint" lautet die Diagnose des an der Berliner Humboldt-Universität lehrenden Autors. Mau stammt aus Rostock und hat über seine dort gemachten Erfahrungen in der Wendezeit ein interessantes Buch geschrieben: "Lütten Klein" ist der Name der Plattenbausiedlung, in der er aufwuchs. Auf keinen Fall aber möchte er als "ostdeutscher Soziologe" etikettiert werden
In der Einleitung moniert Mau den "Überbietungswettbewerb", die Unterschiede zwischen Ost und West auf einen Begriff zu bringen. Die ehemaligen DDR-Bürger hätten den "inneren Hitler" und die "Doppeldiktatur" nicht überwunden, sie seien ein notorisch "unzufriedenes Volk", das sich in der Opferpose gefalle, meinen zum Beispiel Ines Geipel und Detlef Pollack. Umgekehrt gibt es Stimmen wie Katja Hoyer, die eine neue Geschichte "diesseits der Mauer" einfordern und "die guten Seiten des Lebens vor 1989" sichtbar machen wollen.
Eine Replik auf Dirk Oschmann
Im Kern ist Maus relativ kurzer, teils auf früheren Zeitungsveröffentlichungen basierender Essay eine Replik auf den Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann. Mit "Der Osten - eine westdeutsche Erfindung" landete dieser im vergangenen Jahr einen überraschenden Bestseller. Doch Mau widerspricht: "Wer in der Ost-West-Debatte mit Schuldbegriffen operiert, ist schon auf dem Holzweg." Oschmanns Behauptung, die Situation der Ostdeutschen sei ein Produkt westdeutscher Zuschreibungs- und Kleinmachpolitik, hält er für "recht einseitig". Fragen der "diskursiven Missachtung" seien sicher nicht irrelevant, aber als "Mastererklärung" taugten sie nicht. Um die ostdeutsche Gesellschaft zu verstehen, müsse man sich die "Tiefenstrukturen" anschauen. In der viel beachteten Studie "Triggerpunkte" hat Mau das zusammen mit seinen Kollegen Thomas Lux und Linus Westhuser empirisch zu untermauern versucht.
Steffen Mau:
Ungleich vereint.
Warum der Osten anders bleibt.
Suhrkamp,
Berlin 2024;
168 Seiten, 18,00 €
Statt auf eine Angleichung zwischen Ost und West zu hoffen, hält Mau es für sinnvoller, von der "Verstetigung ostdeutscher Eigenarten auszugehen". Am "Ende der Nachahmungsphase" sei der Osten nicht verschwunden, sondern immer noch klar erkennbar. Er charakterisiert die Region treffend als ein "Gefüge, dessen Sozialstruktur und Mentalitäten durch den Stempel der DDR, die Vereinigungs- und Transformationserfahrung sowie einen dadurch begründeten eigenen Entwicklungspfad" gekennzeichnet sind.
Ein "simples Aufholen" werde mit wachsendem zeitlichen Abstand zur Vereinigung immer unwahrscheinlicher, vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht seien die Differenzen schlicht zu groß. Die dazu passenden Fakten sind weitgehend bekannt: Die millionenfache Abwanderung nach Westen ist zwar gestoppt, hat aber langfristige demografische Folgen, die auch Leuchtturmprojekte wie die Ansiedlung neuer Chipfabriken nicht kompensieren können. Fast alle großen Konzerne haben ihren Sitz in Westdeutschland, im Osten werden viel geringere Summen vererbt, die für eine funktionierende Demokratie so wichtige Zivilgesellschaft ist unterentwickelt.
Autor konstatiert “hartnäckige Ungleichheitsverhältnisse”
Mau zählt weitere Indikatoren auf, die gravierende Unterschiede belegen: Ausstattung der Haushalte, Kirchenbindung, Vereinsdichte, Anteil von Menschen mit Migrationsbiografie, Ausgaben für Forschung und Entwicklung, Exportorientierung, Vertrauen in Institutionen, Patentanmeldungen, Produktivität, Anteil junger Menschen, Lebenserwartung von Männern, Größe der landwirtschaftlichen Betriebe, Parteimitgliedschaft, Kaufkraft, Wert von Immobilien, Ausmaß des Niedriglohnsektors: Aus "asymmetrischen- Vorbedingungen" seien "recht hartnäckige Ungleichheitsverhältnisse" geworden.
Für die im Westen etablierten Parteien ergeben sich aus der Analyse weitreichende Schlussfolgerungen. Mit Ausnahme der CDU und der SPD in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern spielen sie in den Ost-Ländern nur eine marginale Rolle.
Mau spricht zugespitzt von einem "eigenständigen Kultur- und Deutungsraum". Er beobachtet "Allmählichkeitsschäden der Demokratie" und meint damit Bruchstellen, die "über einen längeren Zeitraum unbemerkt entstehen und sich schleichend zu einem großen Problem auswachsen". Aus strukturellen und historischen Gründen existiere im Osten ein "recht schwaches Band" zwischen Regierenden und Regierten. Als Gegenmittel plädiert Mau für mehr politische Beteiligung von unten und regt die verstärkte Einrichtung von Bürgerräten an: Als basisdemokratische "Labore der Partizipation" könnten sie im günstigen Fall ein Gegengewicht zu antielitären Einstellungen und der Affinität zum Rechtspopulismus bilden.
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