Deutsche Einheit : Freiheit über alles in der Welt
Ilko-Sascha Kowalczuk analysiert in "Freiheitsschock" die Folgen der deutschen Teilung und der Einheit für die Zukunft die Demokratie.
Die Bilder und Ereignisse vom 9. November 1989 haben sich im kollektiven Gedächtnis der Deutschen eingebrannt. Die Schlagbäume von Ost- nach West-Berlin öffnen sich und bald auch die anderen Übergänge an der innerdeutschen Grenze. Wildfremde Menschen liegen sich in den Armen und feiern, was niemand mehr zu hoffen gewagt hat und sich in den Monaten rasant beschleunigt: Die Überwindung der deutschen Teilung und die Vollendung der deutschen Einheit am 1. Oktober 1990.
Eine Person überschreitet an der Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße den Streifen am Boden, der mit "Berliner Mauer" gekennzeichnet ist deren ehemaligen Verlauf kennzeichnet.
Seit dem Mauerfall sind nun 35 Jahre ins Land gegangen, aber die Diskussionen über die innere Einheit sind nie abgeebbt. Kontrovers und leidenschaftlich wird auf privater und öffentlicher Bühne bis heute darüber gestritten. Schon bald tauchte auch die Frage nach dem Demokratieverständnis in Ost und West auf. Spätestens nachdem in den ostdeutschen Bundesländern in den letzten Jahren eine immer stärker werdenden politische Polarisierung zu beobachten ist, die nach den letzten Landtagswahlen ihren jüngsten Höhepunkt erreicht hat.
Ein anderes Verständnis von Freiheit und Demokratie im Osten
Der Historiker und Publizist Ilko-Sascha Kowalczuk nimmt aus Besorgnis um die Freiheit in Deutschland diese Entwicklungen nun zum Anlass für seinen über 200-seitigen Essay "Freiheitsschock". Er versucht auf Basis seiner bisherigen historischen Arbeiten ("Die Übernahme"), zahlreichen journalistischen Artikeln und persönlichen Erfahrungen auf wissenschaftlichen Tagungen und bei privaten Gesprächen zu ergründen, wieso die Freiheit in Deutschland in Gefahr zu sein scheint und welche historischen, sozialpsychologischen und politischen Ursachen dafür verantwortlich sind, dass sich im Osten der Republik zunehmend ein anderes Verständnis von Freiheit und Demokratie sowie der Wunsch nach anderen politischen Lösungen und Systemen Bahn bricht.
Ilko-Sascha Kowalczuk:
Freiheitsschock.
Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute.
C.H. Beck,
München 2024;
240 S., 22,00 €
Kowalczuk bedient sich dabei in gewohnter Manier der thesenartigen Zuspitzung, herausfordernder Polemik und politischer Leidenschaft. Bei aller Euphorie über den Mauerfall und die deutsche Einheit, die Möglichkeit zu reisen und zu konsumieren, hätten sich die meisten Ostdeutschen keine Gedanken darüber gemacht und natürlich nicht lernen können, welche Herausforderungen die Demokratie und die neu gewonnene Freiheiten mit sich bringen. Im wahrsten Sinne des Wortes hat sich mit dem 9. November über Nacht für die Menschen jenseits der Mauer alles geändert.
Das alles ist nicht neu und bereits hinlänglich analysiert und beschrieben worden. Insbesondere, dass die ideologische und politische Indoktrination und Sozialisation im SED-Staat unweigerlich ihre Spuren hinterlassen hat. Der selbst in der DDR aufgewachsene und dort politisch nicht angepasste Kowalczuk zeigt in bisweilen etwas schulmeisterlicher Art Verständnis für die Besorgnisse, Probleme und Erwartungen seiner "Landsleute" während der schwierigen Transformationszeit. Wofür er kein Verständnis aufzubringen vermag, ist die bis heute auch in akademischen und kulturellen Kreisen zunehmend zu beobachtende Relativierung der SED-Herrschaft, die Beschönigung des Alltags in der Diktatur und die Selbststilisierung als Opfer der deutschen Einheit und der "Übernahme" durch den Westen.
Verantwortungsvoller Umgang mit der neu gewonnenen Freiheit
Bei allem Respekt für die Schwierigkeiten und Enttäuschungen, mit denen die Ostdeutschen in den letzten Jahrzehnten konfrontiert waren und sind, beklagt Kowalczuk besonders letzteres. Er plädiert für das mit der Friedlichen Revolution erlangte Recht und die Pflicht zur Selbstbestimmung sowie den verantwortungsvollen Umgang mit der neu gewonnenen Freiheit. Dass dies mühsam erlernt werden muss, Aushandlungsprozesse immer Kompromisse erfordern und nur selten auf Konsens beruhen, macht er in seinem Essay, der mehr einer Kampfschrift gleicht, immer wieder deutlich. Ebenso unmissverständlich erläutert und verteidigt er, dass Freiheit die Grundbedingung für Frieden, Demokratie und alle anderen politischen und gesellschaftlichen Parameter ist. Hier akzeptiert er keine Ausnahmen.
Angesichts der zu beobachtenden gesellschaftlichen Polarisierung und der politischen Entwicklung nach 1989 sind seine Haltung und sein Engagement verständlich. Inwieweit sie zur Überwindung der Gegensätze, der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und die "andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute" zur Erklärung der weltweit zu beobachtenden Verwerfungen in den Demokratien beitragen, bleibt abzuwarten. Für den letzten Punkt bietet Kowalczuk leider keine Erklärung, was jedoch ebenso dringend erforderlich und wünschenswert ist, wie die Bereitschaft aller Seiten, sich in den konstruktiv-kritischen Dialog zu begeben, gemeinsam Kompromisse zu finden und die Demokratie zu stärken. Das alles kann nur und muss in Freiheit geschehen, damit wir bei aller Skepsis und Unzufriedenheit mit der Gegenwart friedfertig und gemeinwohlorientiert die Zukunft gestalten können.
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