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Lagerwelt von Auschwitz : "Es ist zweifellos wahr und doch unfassbar"

József Debreczenis Erinnerungen an die "Todesfabrik" von Auschwitz sind von verstörender Intensität. Nach 70 Jahren wurden sie jetzt in Deutsche übersetzt.

03.02.2025
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4 Min

Jeder halbwegs informierte Mensch in Deutschland weiß vom Holocaust, der systematisch durchorganisierten Massentötung von Millionen von Juden. Vielleicht sind dem ein oder anderen die Aufzeichnungen von Victor Klemperer, "Der Funke Leben" von Erich-Maria Remarque oder Jean Amérys Werk im Gedächtnis geblieben als erschütternde Darstellungen von Einzelschicksalen. 

Foto: picture alliance/Bildagentur-online/AGF

Am Ende des Bahngleises im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau erinnert eine kleine einfache Plastik an das Zerreißen der Familien auf der Rampe. Dort selektierte die SS Kinder, Alte, Kranke und Arbeitsunfähige von den künftigen Arbeitssklaven.

Trotz allen Wissens: Dieses Buch von Jósef Debreczeni über die Lagerwelt von Auschwitz reißt mit der präzisen Wucht unter die Haut gehender Beschreibungen aus der Alltagsroutine und lässt einen in sprachlos machender Fassungslosigkeit zurück. "Kaltes Krematorium" erschien erstmals 1950 in ungarischer Sprache. Jetzt liegt es erstmals in deutscher Übersetzung vor. Der ungarische Journalist und Dichter hatte sich 1945 kurz nach seiner Befreiung daran gemacht, das Grauen der Todesfabrik Auschwitz in Worte zu fassen.

Abtransport in den “plombierten Höllenzügen” in die Todesfabriken

Es sind erschütternde Worte über unendlich viele Unglaublichkeiten an Leid, Demütigung, Entmenschlichung: Beginnend mit dem Transport in überfüllten Güterwaggons, in die er mit seinen jüdischen Leidensgenossen im serbischen Backa Topola hat steigen müssen. Alte Frauen, die sich Tage zuvor noch in schönen Armstühlen über das Sonntagsessen unterhalten hatten, junge Mädchen, die kurz zuvor Blumen in Poesiealben gepresst hatten. Alte Männer, die am Waldrand hockend ihre Notdurft verrichten mussten unter den Augen "grasgrüner Henkersknechte", der Feldjäger. Die Beschreibungen über den plötzlichen Wechsel vom normalen Leben zum Wahnsinn, der Hunderttausende in "plombierten Höllenzügen" in die Todesfabriken und Gaskammern trieb, graben sich ins Herz: “Das war der Moment, in dem uns zum ersten Mal unsere aufrechte Haltung genommen wurde.”


József Debreczeni:
Kaltes Krematorium.
Bericht aus dem Land namens Auschwitz.
S. Fischer,
Frankfurt/M. 2024;
272 Seiten, 25,00 €


Die ersten Toten gibt es schon auf der Fahrt, die Qualen der Opfer spiegeln sich in schmerzhaft schönen Formulierungen über die Natur wider, als ob sie im Gegensatz zu den Menschen mitleiden würde. Durchs Waggonfenster ist ein Blick auf die "unruhig grüne Gischt" des Balatonsees möglich: "An diesem windigen, verregneten ersten Mai spien die Wellenzungen angewidert dem Zug hinterher." Das Wasser des Flusses Drau "schillert sinnlos", während bei den bangen Gesprächen der Menschen darüber, was wohl auf sie zukommen würde, "ein zaghafter Morgen sein bescheidenes Licht anbietet".

Ermordung im Gas oder "Sklaverei" im Arbeitslager

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In dem "Land namens Auschwitz" mit seinem verzweigten System von Arbeits-, Außen-, Kranken- und Vernichtungslagern erwartet sie die Willkür der Selektion. Zunächst verlassen Frauen und Kinder die Gruppe. Danach folgt mit der Wahl zwischen links oder rechts die Entscheidung Ermordung im Gas oder "Sklaverei" im Arbeitslager. Debreczeni sieht den Rauch des Krematoriums von Birkenau aufsteigen - von denen, die links standen: "Es ist zweifellos wahr und doch unfassbar."

Die Grausamkeit des Vorgehens offenbart sich in den Details, bei den Beschreibungen kleiner berührender Momente: Wenn Debreczeni berichtet, wie ihnen mit ihrer Kleidung die letzte Erinnerung an daheim genommen wurde. Wenn er anmerkt, wie ihre Auslöschung als Individuum beginnt, als sie mit einer Nummer und nicht mehr mit ihrem Namen angeredet wurden. Und in der Selbstverständlichkeit, mit der die Täter ihren Opfern Leid zufügten mit dem Ziel ihrer Vernichtung.

Das perfide und teuflische System der Lagerhierarchie

Eine Anklage ohnegleichen ist seine Analyse des perfiden, "teuflischen" Systems der Lagerhierarchie. Zum Stubenältesten, Blockältesten, Lagerältesten wurden Mithäftlinge ernannt, die ein paar Privilegien erhielten und etwas weniger von der nahenden Vernichtung bedroht waren. Mit dem Ergebnis, dass sich etliche ähnlich niederträchtig verhielten wie die SS-Leute. Das hätten nicht nur die Angst vor der eigenen Ermordung und Vergünstigungen wie bessere Suppe oder Kleidung bewirkt. Die Funktionshäftlinge hätten als "Trinkgeld" das "wirkungsstärkste Opium" erhalten: "Macht. Grenzenlose Macht über Leben und Tod." Debreczeni behält sie im Gedächtnis: den launischen, bösartigen Lagerältesten Max, der die "abgemagerten, verlausten Knochenmänner" mit einem dünnen Stock antreibt und quält, oder den SS-Sturmbannführer, einen Metzger, der 22 Menschen zu Tode geprügelt hat und abends Geige spielt.

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Debreszeni ist ein Meister beim Darstellen von Einzelheiten. Jeder Zweifel daran, dass das Unfassbare wirklich geschehen ist, wird im Keim erstickt. Man scheint das Wimmern der Insassen tatsächlich zu hören, den Gestank in den Baracken real zu riechen, Schmerz und Verzweiflung ein wenig körperlich mitzufühlen. Debreczeni diagnostiziert, "Hitlers Teutonen" fehle einfache menschliche Anteilnahme: "Deshalb konnte der Wahnsinn dieses Ausmaß erreichen." Sein Buch ist eine einzigartige, unendlich nötige Stimme gegen das sich ausbreitende Leugnen und Umdeuten des Geschehenen.