Die Bundeswehr und die Zeitenwende : In den Nebeln des Krieges
Über zwei Jahre hat der Journalist Christian Schweppe die sogenannte Zeitenwende und ihre Protagonisten begleitet. Beobachtet hat er vor allem viel Mutlosigkeit.
Für den CSU-Verteidigungspolitiker Florian Hahn ist die Sache klar: Die von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ausgerufene "Zeitenwende" ist ebenso "gescheitert" wie die Ampel-Koalition. So verkündete es der Parlamentarier Anfang Dezember vergangenen Jahres im Plenarsaal des Bundestags während der Debatte über die dauerhafte Stationierung einer Bundeswehr-Brigade in Litauen. Zur Untermauerung seines Urteils berief sich Hahn unter anderem auf das Buch "Zeiten ohne Wende. Anatomie eines Scheiterns" des Journalisten Christian Schweppe.
Nur all zu gerne führen Abgeordnete Journalisten und Publizisten als Kronzeugen für die eigene Sicht der Dinge an. Und Schweppes Buch trägt das von Hahn attestierte Scheitern ja bereits im Titel. Dies lastet Schweppe jedoch nicht nur der aktuellen politischen Führung an, sondern einem seit Jahrzehnten verfehlten Umgang mit der Bundeswehr insgesamt, für den auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und gleich mehrere Verteidigungsminister aus den Reihen der Unionsparteien verantwortlich sind. Aber so tief wollte Florian Hahn öffentlich dann wohl doch nicht in die Lektüre des von ihm angepriesenen Buches einsteigen.
Der Angriff Russlands und die Zeitenwenden-Rede im Bundestag
Empfehlen kann man Schweppes Buch durchaus, wenn auch mit gewissen Abstrichen. Über zwei Jahre hat der Journalist beobachtet, wie sich die von Bundeskanzler Scholz ausgerufene Zeitenwende konkret in der Politik und in der Bundeswehr ausgewirkt hat. Angefangen bei den sieben Schritten, die der Kanzler am 27. Februar 2022 von seinem Platz auf der Regierungsbank bis zum Rednerpult "mit Bedacht" zurücklegte, um den zu einer sonntäglichen Sondersitzung zusammengerufenen Bundestagsabgeordneten und dem deutschen Volk zu verkünden, welche Konsequenzen er aus dem drei Tage zuvor begonnenen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ziehen will. An diesem Tag sei aus Olaf Scholz vor aller Welt faktisch ein "Kriegskanzler" geworden, schreibt Schweppe. Allerdings sollte diese Wandlung vor allem eine rhetorische bleiben.
Ein Kriegskanzler, der ein Friedenskanzler sein will
Der Begriff "Zeitenwende" bringt es zum Wort des Jahres 2022, wird für Scholz "fast so etwas" wie das "Wir schaffen das" Merkels oder das "Yes, we can" des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama. Aber Olaf Scholz "will kein Kriegskanzler sein, lieber Friedenskanzler", resümiert Schweppe zu Recht. Bereits im Europawahlkampf 2024 ließ sich Scholz als "Friedenskanzler" plakatieren, aktuell wiederholt sich diese Inszenierung angesichts der vorgezogenen Neuwahlen. Doch bis zum Bruch der Ampelkoalition reicht Schweppes Langzeitreportage leider nicht.
Der Journalist hat viele der prominenten Gesichter der Zeitenwende beobachtet und immer wieder zu Gesprächen getroffen. Zum Beispiel den Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, der zu Beginn des Ukraine-Krieges öffentlich kundtat, dass die Landstreitkräfte der Bundeswehr "blank" seien. Oder Mais' Luftwaffenkollege, Generalleutnant Ingo Gerhartz, der während eines Telefonats mit anderen Offizieren über den Taurus-Marschflugkörper von den Russen abgehört wurde. Und natürlich die damalige Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), die den Kanzler in all den Diskussionen über die Lieferung schwerer Waffensysteme an die Ukraine öffentlich gehörig unter Druck setzte.
Verteidigungsministerin Lambrecht entwickelte nie ein Gespür für die Truppe
Doch vieles von dem, was Schweppe zu berichten weiß, geht kaum über das hinaus, was Leser in dieser Zeit aus den tagesaktuellen Nachrichten erfahren konnten. Über das ungeschickte Agieren von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) etwa, die zu keinem Zeitpunkt ein echtes Gespür für die Truppe entwickelte, der Öffentlichkeit weiß zu machen glaubte, 5.000 Gefechtshelme seien ein wirklich substanzieller Beitrag Deutschlands für die Verteidigung der Ukraine, und am Ende nach nur 13 Monaten ihren Rücktritt einreichen musste. Natürlich gehören auch diese bekannten Fakten zu einer Langzeitreportage über die Zeitenwende und Schweppe versteht es auch, diese spannend zu erzählen. Das von ihm mehrfach verwendete Stilmittel, die Leser mit Cliffhanger-Formulierungen wie "Behalten Sie das im Hinterkopf" bei der Stange zu halten, ist hingegen nervig und auch völlig überflüssig.
Goldrausch in der Industrie und Haushaltsberatungen
Am stärksten ist Schweppes Buch da, wo es seinen Lesern tiefere Einblicke in das Innenleben der Politik und der Streitkräfte bietet, die man nicht der tagesaktuellen Presse entnehmen kann. Etwa in den Kapiteln über jenen "Goldrausch", der in der deutschen und internationalen Rüstungsindustrie ausbricht, als sich Deutschland anschickt, ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für neue Waffen auszugeben und sich die Rüstungslobbyisten in Berlin die Klinken im Bundestag und den Ministerien in die Hand drücken. Oder wenn Schweppe sich von einem Mitarbeiter der Unionsfraktion in die Abgründe und Tricks der Haushaltsberatungen im Bundestag einweisen lässt. Davon hätte man gerne mehr gelesen, um die Nebel des Krieges ein wenig zu lichten.
Christian Schweppe:
Zeiten ohne Wende.
Anatomie eines Scheiterns.
C.H. Beck,
München 2024;
352 Seiten, 26,00 €