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Angela Merkels Kanzlerschaft : "Wie es euch gefällt"

Der Journalist Eckart Lohse zieht eine kritische Bilanz der 16 Merkel-Jahre. Die Kanzlerin sei ohne Masterplan auf Sicht gefahren. Auch gegen eigene Überzeugungen.

15.10.2024
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4 Min
Foto: picture alliance/dpa

Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel während der Veranstaltung "Was also ist mein Land" im Berliner Ensemble am 7. Juni 2022.

Als Angela Merkel 2021 am Tag der Deutschen Einheit in Halle spricht, gibt sie einen Einblick in eine spezifisch ostdeutsche Erfahrung. In einem Zeitungsartikel habe sie über sich gelesen, dass sie "keine geborene, sondern eine angelernte Bundesdeutsche und Europäerin" sei, sagte die scheidende Bundeskanzlerin sichtlich aufgebracht. "Gibt es zwei Sorten von Bundesdeutschen und Europäern - das Original und die Angelernten, die ihre Zugehörigkeit jeden Tag aufs Neue beweisen müssen?" Für manchen Beobachter kam diese öffentlich vorgetragene Kränkung überraschend, war Merkel in ihrer langen Politikkarriere doch nicht dafür bekannt, ihre ostdeutsche Herkunft ins Schaufenster zu stellen: Im Gegenteil, häufiger wurde ihr vorgeworfen, diese Herkunft lieber zu verstecken.

Nur eine Politikerin aus dem Osten in Merkels Kabinett

In all den Jahren hat es aus ihrer eigenen Partei gerade einmal eine Politikerin aus dem Osten auf einen Ministerposten in Merkels Kabinett geschafft. Für Eckart Lohse ist das ein erstaunlicher - aber auch ein symptomatischer Befund. In seinem Buch "Die Täuschung. Angela Merkel und ihre Deutschen" stellt der Leiter des Berliner Büros der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" das "finale furioso" von Halle in den Mittelpunkt. Hier verschaffe Merkel nicht nur einer ostdeutschen Kränkung öffentlichen Raum. Für Lohse ist der Moment auch ein Schlüssel zum Verständnis von Merkels politischen Handeln - als junge Ministerin, als Oppositionsführerin und schließlich als Langzeit-Kanzlerin zwischen 2005 und 2021. "Über 16 Jahre klammerten sich viele Deutsche an eine Kanzlerin, die weniger in sich ruht, als es äußerlich wahrnehmbar ist." 


„Über 16 Jahre klammerten sich viele Deutsche an eine Kanzlerin, die weniger in sich ruht, als es äußerlich wahrnehmbar ist.“
Eckart Lohse

Lohse beschreibt Merkel als eine Getriebene, eine, die lange geglaubt habe, dem westlich geprägten Politikbetrieb den Nachweis erbringen zu müssen, dazuzugehören. Aus dieser Grunddisposition heraus erkläre sich vieles von dem, was ihr Kritiker so oft vorgeworfen haben: “Sie legt sich nicht fest, wartet ab, steuert nach, schaut, wohin sich der Wind dreht.”

Lohse diagnostiziert fehlende Risikobereitschaft

Die vielen Baustellen des Landes heute, bei der Bundeswehr, beim Wohnbau, bei Brücken und Bahn, führt der Autor auch auf den Regierungsstil Merkel zurück. Deutlich macht er das am Beispiel des Atomausstiegs und der Energiewende. Merkel habe nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima "wie eine Hammerwerferin den Schwung aus der atemberaubend schnellen Drehung um die eigen Achse" nutzend nicht nur den "Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg" der Atomenergie vollzogen, sondern der politischen Konkurrenz von Sozialdemokraten und Grünen gewissermaßen auch noch ein Parade-Thema gestohlen. Ein Moment der Täuschung zeigt sich für den Lohse auch darin, dass Merkel hier womöglich gegen ihre eigene Überzeugung gehandelt habe. Keinesfalls jedenfalls dürfte für die Naturwissenschaftlerin die "Diktatur aus Steckdose" kommen, wie man das einst bei den Grünen gemutmaßt habe. Die Diktatur, mit der sie es zu tun hatte, sei aus dem Apparat des SED-Staats gekommen.


Eckart Lohse:
Die Täuschung.
Angela Merkel und ihre Deutschen.
dtv,
München 2024,
336 S., 25,00 €


Mit der Energiewende, dem Nachweis eines Industrielands, einen Ausstieg aus fossiler Energie hinzubekommen, hätte Merkel ihrer Kanzlerschaft einen Stempel aufdrücken können, findet Lohse - vergleichbar mit Helmut Schmidts Nato-Doppelbeschluss, Helmut Kohls Entschlossenheit zur Einheit, Gerhard Schröders Wagnis der Agenda 2010. Solche Risikobereitschaft gehe Merkel indes ab, konstatiert Lohse, der sie als Politikerin beschreibt, die aus Sorge vor dem Scheitern allzu genau prüft, wie die Stimmung im Wahlvolk ist: "Einen Zehn-Punkte-Plan oder eine Agenda 2010 macht man nicht, wenn man ganz sicher sein will, die Mehrheit bereits zusammen zu haben."

Die Kanzlerin, die ohne Masterplan auf Sicht fährt

Merkel sei beim zentralen Projekt ihrer Kanzlerschaft exemplarisch anders verfahren: "Energiewende ja, aber nicht so, dass der Widerstand zu groß wird." Sie und die mitregierenden Sozialdemokraten wollten "raus aus der Kernkraft und dafür mehr Russen-Gas" - das sei attraktiv gewesen, weil es den Anstieg der ohnehin schon hohen Strompreise zu bremsen versprach. Gemeinsam mit der SPD steuerte Merkel "orientierungslos" in die mit Gas-Pipelines so tatkräftig ins Werk gesetzte russische "Umklammerung".

Schmähungen wie jene des "Wall Street Journals", Deutschland betreibe die "dümmste Energiepolitik der Welt" sind bei Lohse indes nicht zu finden. Auch den AfD-Vorwurf einer "Umvolkungs"-Absicht der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise weist er als abstrus zurück und lässt sie an der Beschreibung der Realitäten abprallen. Merkel habe gar keinen "Masterplan", sie fahre auf Sicht.

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Ausdrücklich hält Lohse fest, dass es "ihre" Deutschen ja in größeren Teilen genau so gewollt hätten: "Wie es euch gefällt" heißt treffenderweise eine Kapitelüberschrift. Im Deutschland der nuller und zehner Jahre habe es sich für viele "in saturierter Geborgenheit" in einer Art "liberalen Biedermeier" gut leben können: Bis dem Geschäftsmodell mit billigem Gas aus Russland, preiswerter Technologie aus China und preiswerter Sicherheit aus den USA mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine die Grundlage entzogen wurde.

Die Kritik an Merkel, das ist Lohse wichtig, fällt auch auf das Publikum zurück. Die Deutschen hätten lange die Zeitenwende verschlafen: Diese gebe es nämlich nicht erst seit 2022, sondern eigentlich seit zwei Jahrzehnten. Mit dieser Einsicht schließt Lohses ebenso unterhaltsam geschriebener wie illusionsloser Rückblick auf die Merkel-Jahre. Spannend könnte sein, was die Hauptfigur zu all diesen Fragen vorbringt: Ende November erscheinen Merkels Memoiren.