Vor 35 Jahren : Abgeordnete singen spontan die Nationalhymne
Die Nachricht vom Mauerfall am 9. November 1989 bewegte auch den Bundestag im fernen Bonn. Am Abend kommt es zu einem emotionalen Moment im Plenarsaal.
Es ist wohl keine Übertreibung, wenn man von einem Gänsehautmoment im Bonner Plenarsaal spricht. Als am Abend des 9. November 1989 die Nachricht vom Mauerfall den Bundestag erreicht, stimmen die drei Abgeordneten Ernst Hinsken (CSU), Franz Sauter und Hermann Josef Unland (beide CDU) spontan die Nationalhymne an. Nach und nach erheben sich auch die anderen Abgeordneten sowie die Schriftführer von ihren Plätzen und stimmen mit ein.
In Ost-Berlin überschlugen sich die Ereignisse
Dass es ein historischer Tag werden sollte, ahnten die Abgeordneten noch nicht, als sie damals zusammenkamen. Die Agenda der 174. Sitzung der elften Wahlperiode klang jedenfalls nach Parlamentsalltag: eine Befragung der Bundesregierung zur "Flüchtlingsbewegung und die Situation in Aufnahmelagern", Beratungen über eine Rentenform, eine Aktuelle Stunde zur "Schätzung der EG-Getreideernte".
Währenddessen überschlugen sich in Ost-Berlin die Ereignisse. Günter Schabowski, Sprecher des SED-Zentralkomitees, verkündete gegen 18.30 Uhr auf einer Pressekonferenz die Öffnung der Grenzen zur Bundesrepublik. Um 19.05 Uhr verbreitete die Nachrichtenagentur AP in einer Eilmeldung "DDR öffnet Grenzen", um 19.41 Uhr zog die Deutsche Presseagentur (dpa) nach, um 20 Uhr war die Grenzöffnung Topnachricht in der "Tagesschau".
Applaus, als die Nachricht kommt
Etwa gleichzeitig brachte der stellvertretende Unionsfraktionschef Heinz Spilker die frohe Kunde ins Plenum. "Ab sofort können DDR-Bürger direkt über alle Grenzstellen zwischen der DDR und der Bundesrepublik ausreisen", verlas er eine Meldung. Die Abgeordneten applaudierten minutenlang.
Wenige Minuten später, vor einer namentlichen Abstimmung über ein Vereinsförderungsgesetz, bat Bundestagsvizepräsidentin Annemarie Renger (SPD) die Abgeordneten bereits, "in der nächsten Stunde" das Haus nicht zu verlassen. "Sie kennen die Ereignisse, die sich durch die Öffnung der Grenzen ergeben haben. Es ist möglich, dass dazu noch Ausführungen gemacht werden", erklärte sie.
Laut Plenarprotokoll unterbrach Renger die Sitzung dann auf Wunsch der Fraktionsvorsitzenden um 20.22 Uhr. Eine Viertelstunde später trat der Chef des Bundeskanzleramtes, Rudolf Seiters (CDU), ans Rednerpult und sprach in einer Erklärung der Bundesregierung von "historischen Prozessen". "Die vorläufige Freigabe von Besuchsreisen und Ausreisen aus der DDR ist ein Schritt von überragender Bedeutung", so Seiters. "Damit wird praktisch erstmals Freizügigkeit für die Deutschen in der DDR hergestellt."
Historische Nacht auch in Bonn
Deutlicher wurde SPD-Fraktionschef Hans Jochen Vogel, der bereits von einem "Ende der Mauer" sprach, die nach 28 Jahren "ihre Funktion verloren" habe. "Ich denke, dass heute in der Nacht noch, aber morgen ganz gewiss das Fest der Freizügigkeit in Berlin stattfinden wird", sagte der Grünen-Abgeordnete Helmut Lippelt voraus. Als letzter sprach Wolfgang Mischnick (FDP) und forderte freie Wahlen in der DDR.
Nach Mischnicks Rede verzeichnet das Protokoll "Beifall bei allen Fraktionen - Die Anwesenden erheben sich und singen die Nationalhymne". Danach war an eine Rückkehr zur Tagesordnung nicht mehr zu denken. "Mit diesem großen Ereignis ist dieser Sitzungstag heute geschlossen", schickte Vizepräsidentin Renger die Abgeordneten in die historische Nacht.
So haben DDR-Bürger die Mauer nicht zu Gesicht bekommen: Zum 35. Jubiläum des Mauerfalls zeigt eine Ausstellung im Bundestag seltene Aufnahmen der DDR-Grenztruppen.
Am Morgen dieses Donnerstags des Jahres 1989 ahnt noch kein Mensch, dass sich die Tore in der Berliner Mauer noch vor Mitternacht öffnen werden.
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