Parlamentarisches Profil : Der Unabhängige: Joe Weingarten
Joe Weingarten ist eigentlich ein Mann der Exekutive. Seinen Wahlkreis Kreuznach gewann der Sozialdemokrat direkt gegen eine CDU-Prominenz.
Als es langsam draußen dunkelt, legt sich ein Schatten auf Joe Weingartens Gesicht, der von innen kommt. Es geht um seine Erinnerung an den 7. Oktober 2023 und was ihm damals durch den Kopf gegangen sei, und Weingarten antwortet an diesem frühen Donnerstagabend mit einem Wort: "Fassungslosigkeit."
Der Verteidigungspolitiker und Vize-Vorsitzende der Parlamentariergruppe Arabischsprachige Staaten saß zwei Wochen nach dem Terrorangriff der radikalislamischen Hamas aus dem Gazastreifen heraus im Flieger und sah dann vor Ort die Blutspuren an den Wänden eines Kibbuz, der von den palästinensischen Kämpfern überrannt worden war - mit dem Ziel, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Terror und Trauma über die Menschen zu bringen.
Joe Weingarten (62) sitzt seit 2019 für die SPD im Bundestag. Er ist Mitglied im Verteidigungsausschuss und im Ausschuss für Kultur und Medien.
War ihm klar, dass heute, ein Jahr später, solch ein Krieg herrschen würde? "Natürlich", bescheidet er ähnlich kurz. Und schiebt nach: "Die militärische Bedrohung hat es für Israel immer gegeben. Aber das Abschlachten durch die Hamas ist eine neue Dimension. Das Selbstverständnis Israels als sicherer Ort wurde getroffen." Jede andere Regierung hätte auch so reagiert.
Europa in der Verantwortung: Weingarten fordert pragmatische Lösungen für Nahost
Auch in diesem Ausmaß? "Ich maße mir nicht an, den Israelis zu sagen, wie sie um ihr Leben kämpfen sollen." Für Weingarten, 62, SPD-Bundestagsabgeordneter des Wahlkreis Kreuznach, ist das, was gerade im Nahen Osten passiert, eine Frage der Existenz für den jüdischen Staat. Er sieht, was die Zukunft angeht, Europa in der Pflicht. "Und zwar mit Garantien, nicht mit harmlosen Blauhelmsoldaten, sondern mit einem robusten Mandat. Das müssen wir Europäer machen, wir sind ja Mittelmeer-Anrainer."
Weingarten hat den Ruf eines Pragmatikers. Im Vorraum hängt ein Plakat von Helmut Schmidt. Und auf die Frage, was der promovierte Verwaltungswissenschaftler und Autor mehrerer Fachbücher dem Nahen Osten wünscht, sagt er: "Akzeptierte Verwaltungsstrukturen, die funktionieren." Damit kommt er zum Kern dessen, was ihn an Politik umtreibt.
„Ein Gesetz ist erstmal nur Papier. Die Arbeit beginnt mit der Umsetzung.“
Weingarten ist eigentlich ein Mann der Exekutive. Sein halbes Leben verbrachte er im Dienste kommunalpolitischer Strukturen und in Landesministerien in Rheinland-Pfalz, war Abteilungsleiter. Unter Ministerpräsident Kurt Beck habe er gelernt, dass die Menschen konkret spüren müssten, dass die Politik etwas für sie macht. "Das ist wichtiger als jeder theoretische Beschluss." Er steht jetzt auf, greift von seinem Schreibtisch einen Stapel Papier. "Hier", sagt er, "ein Gesetz ist erstmal nur Papier.
Ein Pfälzer, der sich ein gewisses Maß an Unabhängigkeit bewahrt
Die Arbeit beginnt mit der Umsetzung." Weingarten ist ein Umsetzer. Einer, der als einziger Sozialdemokrat im Bundestag kein Parteiamt innehat, weil er zu sehr mit "Umsetzung" beschäftigt war. Dabei bewahrte sich der Pfälzer ein gewisses Maß an Unabhängigkeit, bringt in solidem Rhythmus auch Genossen gegen sich auf, wenn er etwa gegen "Pessimismus in der Partei" anredet, denn die SPD ist für ihn eine prädestiniertere Regierungspartei als die CDU. "Die SPD handelt, wenn sie muss", sagt das Mitglied des Seeheimer Kreises in der SPD.
Wenn die Israelis ihre Angreifer nicht bezwingen, werden sie vernichtet, sagt die CDU-Abgeordnete Gitta Connemann. Hamas und Hisbollah wollen den Tod aller Juden.
Findet jüdisches Leben in Deutschland ausreichend Unterstützung? Für Markus Decker lässt die Politik daran großteils keine Zweifel, Hagen Strauß wünscht sich mehr.
In den Bundestag kam er überraschend. Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles trat im November 2019 zurück, verzichtete auch auf ihr Mandat - und der Mann im Landesressort rückte plötzlich nach. Allerdings so, dass er 2021 den Wahlkreis direkt gegen die CDU-Kandidatin Julia Klöckner gewann.
Sozialdemokratisches Aufstiegskind und Bücherliebhaber
Weingarten ist ein klassisches sozialdemokratisches Aufstiegskind. Die Mutter Schreibkraft in der Stadtverwaltung, der Vater zivilbeschäftigt bei der US-Army und in der Partei aktiv, als Ortsverbandsvorsitzender und Gemeinderat. Als er starb, erhielt der Junior, der bis heute alle "Spiegel"-Ausgaben sammelt und bindet, aus dem Nachlass eine handsignierte Biographie des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher; sie war dem Vater in den Fünfzigern wegen Verdiensten von der Partei geschenkt worden.
Die Liebe zu den Büchern blieb. Am späteren Abend, ab 21:30 Uhr, wird Weingarten im Plenarsaal sein. "Doch vorher gönne ich mir eine Stunde Muße in einer Buchhandlung." Als er die Tasche packt, ist es draußen schon schwarz.