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Michael Roth : "Ich zweifle oft"

Seit 1998 sitzt Michael Roth im Bundestag - nun scheidet er aus. Der Sozialdemokrat warnt vor Überlastung und Angst im Politikbetrieb – auch aus eigener Erfahrung.

07.01.2025
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4 Min

Wer es gern mit Klischees hält, würde einem wie ihm keine große Karriere in der Politik prophezeien. "Ich bin ein emotionaler Mensch, eine Schere im Kopf habe ich nicht", sagt Michael Roth. Und zu Beginn seiner Laufbahn als Berufspolitiker habe ihm ein altgedienter Genosse aus dem Wahlkreis prophezeit: "Du isst keine Wurst, trinkst kein Bier, magst keine Kirmes und mit den Frauen hast Du es auch nicht so - das wird nichts'", erinnert er sich und schlägt die Beine übereinander. Alles schlechte Voraussetzungen in diesem Job, möchte man meinen. Aber es geht auch anders.

Foto: Michael Farkas

Michael Roth (SPD) war Staatssekretär im Auswärtigen Amt und sitzt seit 1998 im Bundestag. Nun hört der Nordhesse auf.

Als der damals aus einer nordhessischen Bergarbeiterfamilie stammende Roth für die SPD den Wahlkreis Hersfeld gewann - er war gerade 28 Jahre alt geworden - setzte er fortan weiter auf zwei Prinzipien: Er stellte den oben erwähnten "Nachteilen" Offenheit und Nahbarkeit entgegen, und dies mit Erfolg. Vielleicht prägt er damit einen neuen Politikertyp, aber das lässt sich noch nicht feststellen - jetzt, wo er sich nach 27 Jahren aus der Politik verabschieden und kein Mandat, auch keines auf kommunaler Ebene, anstreben wird.

Der Sozialdemokrat wurde zum Brückenbauer

In seinem Büro schaute er zur Begrüßung etwas gedankenverloren drein. "Gerade rief ein Journalist an und fragte nach der Handynummer der georgischen Präsidentin", sagte er, "und ich überlegte noch, wie ich damit umgehe". Die Eigenschaft eines Brückenbauers entwickelte sich, binnen bis heute sieben gewonnenen Direktmandaten und acht Jahren als Staatsminister im Auswärtigen Amt unter drei Außenministern. Seit 2021 steht er dem wichtigen Auswärtigen Ausschuss des Bundestags vor. 

Bei Roth füllte sich nicht nur das Telefonbuch, sondern auch ein Sack mit Erfahrungen. "Ich sehe mit Sorge", sagt er, “dass sich viel junge Kolleginnen und Kollegen zu viel zumuten. Das ist nicht gut. Man muss nicht alles machen.”


„Ich sehe mit Sorge, dass sich viel junge Kolleginnen und Kollegen zu viel zumuten.“
Michael Roth (SPD)

Er selbst erfuhr im Jahr 2022 eine mentale Erschöpfung, nahm sich eine Auszeit. "Die Erkrankung zeigte mir Grenzen auf und ermöglichte Neues: Ich will mir nicht treu bleiben, ich will mich verändern, sonst würde ich ein verbitterter Zyniker oder ein Dogmatiker werden." Seine Erfahrungen aus all diesen Jahren möchte er allerdings schon einbringen, "wie und wo, weiß ich noch nicht". Gerade schreibt Roth ein Buch, es wird autobiographische Züge haben, und es wird eine Art Bilanz. "Es gibt einiges aus diesen 27 Jahren, woran ich nicht so gerne zurückdenke. Aber ich will einen zuversichtlichen Schlussstrich ziehen, da muss ich mich einer ehrlichen Auseinandersetzung mit meinem politischen Leben stellen."

Roth warnt davor, Angst im Politikalltag auszublenden

Zu dieser Offenheit gehört für Roth das Thema Angst. "Gerade Jungpolitiker stehen unter einem permanenten Erwartungsdruck. Aber als Abgeordneter erlebt man auch lange Durststrecken." Die kenne er gut, schiebt er nach, so sei er um Beispiel zweimal bei Sprecherwahlen in seiner Fraktion durchgefallen. "Die Ängste vorm Verlieren, manchmal sogar vorm Gewinnen und der damit verbundenen Verantwortung werden oft ausgeblendet, das ist nicht gesund."

Im Laufe der Jahre entwickelte sich Roth zu einer Bank für die SPD. Er wird gern in TV-Talkshows geladen, um in seinen klaren und eindringlichen Worten das Weltgeschehen zu ergründen. Andersrum entwickelte sich aber auch die SPD zu einem wichtigen Pfeiler in seinem Leben. "Ohne meine Partei wäre ich nicht der, der ich heute bin." 

Es begann mit einem Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung, parallel dazu die politische Arbeit. "Ich wünschte mir, ich hätte damals ein Semester im Ausland verbracht", sagt er über sein Studium, das ihn zur Politologie, zum Öffentlichen Recht, zur Germanistik und zur Soziologie führte und er als Diplompolitologe abschloss. Immerhin versuche er seit zwei Jahren, Spanisch zu lernen, "aber ich bin nicht stolz auf meine Sprachkenntnisse, das ist mir nicht in die Wiege gelegt worden", erzählt er offen. Als er im Auswärtigen Amt anfing, sagt er, sei es mit dem vielen Englischreden hart gewesen - "in einem Umfeld, in dem fast alle das fließend beherrschen". Aber er wird es bewerkstelligt haben, mit seiner ehrlichen Art, die in ihrer Weigerung eines Vorspiegelns einlädt.

Entfremdung von der Politik

Der Abschied aus der Politik kommt auch, weil er sich ein Stück weit von ihr entfremdete; teils aus dem oben beschriebenen Aufreiben heraus, teils wegen Meinungsverschiedenheiten. Dem Magazin "stern" sagte er im April dieses Jahres: "Sowohl Partei als auch Fraktion haben sich ihm faktisch untergeordnet" - er meinte SPD-Kanzler Olaf Scholz. Roth gehörte zu den frühen Unterstützern der angegriffenen Ukraine, forderte raschen Beistand und mehr. Damit machte er sich nicht nur Freunde. "Bei solch einer Frage von Frieden und Krieg gibt es keine Blaupause", sagt er, "warum man bei so einem kontroversen Thema nicht offen und fair miteinander streiten kann, verstehe ich nicht"; man mache sich doch auf jeden Fall mitschuldig: entweder durch Waffenlieferungen oder durch das Verweigern von Waffenlieferungen.

Vielleicht braucht es mehr Politiker seines Typs. Welche, die in ihrem Wahlkreis hauptsächlich mit ihrem Vornamen bekannt sind, die so reden, dass man sie versteht, und die dennoch keine leichten Antworten vorheucheln. "Es ist wichtig, den eigenen Gefühlen so Ausdruck zu verleihen, dass diese zu den Leuten vordringen." Den Aufstieg der Nationalpopulisten führt er auch darauf zurück, dass diese die Menschen emotional berühren würden, aber eben auf eine schlechte Art. "Sie wecken das Arschloch in einem!" Ziel müsse dagegen sein, die Leute positiv zu berühren.

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Hinter seinem Sessel im Büro steht im Regal ein Teller mit dem Bild Willy Brandts, neben ihm auf dem Boden eine metergroße Figur Martin Luthers. "Er hat sich aus der Selbstentmündigung befreit", sagt Roth, und man weiß nicht, ob er nur den Theologieprofessor aus Eisleben meint oder auch ein bisschen sich selbst. "Auch Luther war voller Angst." Zum Glauben, sagt er beim Abschied, gehöre der Zweifel. "Und ich zweifele oft."