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Sven-Christian Kindler : "Ich hatte den besten Job im Parlament"

Mit 39 Jahren entscheidet sich der einflussreiche Grünen-Haushälter Sven-Christian Kindler für den Abschied aus dem Bundestag. Er will mehr Zeit für seine Familie.

02.01.2025
True 2025-01-02T17:14:08.3600Z
4 Min

Die Welt der Zahlen spiegelt sich in seinem Büro nicht, dabei sind sie allgegenwärtig in der Arbeit von Sven-Christian Kindler. Wenn der haushaltspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion an seinem leer wirkenden Schreibtisch steht, schaut er rechts auf ein Foto, auf dem die Grüne Jugend in Hannover 2009 seinen Einzug in den Bundestag feierte - mit Bengalfeuer. Und daneben ein Bild aus dem Kunstarchiv, Titel: "In der Schusslinie"; das könnte schon eher die Arbeit im Haushaltsausschuss beschreiben, behandelt aber bewaffnete Konflikte anderswo. "Oft bin ich nicht im Büro", erklärt er, "meistens sitze ich in Meetings oder im Plenarsaal." Kindler, 39, saß so lange in dem Ausschuss wie kein Grüner zuvor. "Ich hatte den besten Job im Parlament", resümiert er. Denn bei der nächsten Bundestagswahl tritt er nicht mehr an.

Foto: Tim Gassauer

Sven-Christian Kindler ist der Haushaltsexperte der Grünen im Bundestag. Er tritt nicht wieder zur Wahl an. Künftig will er mehr Zeit mit der Familie verbringen.

Der Haushaltsausschuss kontrolliert und gestaltet die Ausgaben des Bundes, er manövriert Milliardensummen. Als Kindler gleich mit seiner Wahl in den Bundestag auch ins Gremium kam, wollte der Pfadfinder das Motto der Scouts umsetzen und die Welt durch seine Arbeit besser hinterlassen, als man sie vorfindet. "Wir erleben im Kapitalismus eine massive Ausbeutung von Mensch und Natur", sagt er. "Ich wollte meinen Beitrag dagegen leisten und nicht nur jammern." Und wie lautet seine Bilanz? "Wir haben eine Menge geschafft, aber es bleibt noch viel zu tun", sagt er mit Blick auf die Ampel-Koalition, die bereits Geschichte ist. 

Die verschworene Gemeinschaft der Haushälter

Wenn der Hannoveraner über die Haushaltspolitik spricht, gerät er direkt ins Schwärmen, dann wechselt sein Ton, der zuweilen etwas müde klingt, ins Energische. "Wir haben sehr viel hinbekommen", sagt er über die Zusammenarbeit mit den haushaltspolitischen Sprechern Otto Fricke (FDP) und Dennis Rohde (SPD) und verweist auf 500 beschlossene Änderungsanträge in jedem Jahr im Bundeshaushalt. Die drei hätten viel intern diskutiert, zum Teil hart, seien aber stets auf der Suche nach einer gemeinsamen Lösung gewesen - und erst dann an die Öffentlichkeit getreten. "Das weiß ich sehr zu wertschätzen, da bin ich dankbar."

Klingt nach viel Harmonie, warum dann der Bruch? "Mit Otto Fricke kann ich mir in Zukunft eine Zusammenarbeit gut vorstellen, aber nicht mit dieser D-Day-FDP von Christian Lindner." Haushälter, so scheint es, waren schon immer eine Art verschworene Gemeinschaft. Eine, welche die Hoheit des Parlaments besonders einatmet; vielleicht kommt dies einher mit der enormen Verantwortung, welche all diese Zahlen bringen. "Wir kontrollieren und korrigieren eben auch die Regierung", sagt er und erinnert daran, wie der Ausschuss zum Beispiel gegen den Widerstand vieler, auch in der Regierung, das Boni- und Dividendenverbot bei der Energiepreisbremse für Großunternehmen durchsetzte. "Wir sparten damit Milliarden ein, und gleichzeitig traten die ganzen Horrorszenarien der Lobby nicht ein. Kein Unternehmen ist deswegen pleite gegangen."

Aus dem Unternehmenscontrolling in den Haushaltsausschuss

Es kommt nicht oft vor, dass Newcomer des Parlaments sofort in diesem Ausschuss landen. "Ich kann gut rechnen und weiß, was Zahlen bedeuten", erklärt Kindler. Das Arbeiterkind war das erste in der Familie mit Abitur und Studium; Kindler absolvierte ein duales Studium in Betriebswirtschaftslehre bei der Leibniz-Akademie in Hannover und bei Bosch Rexroth Pneumatics GmbH, arbeitete dann zwei Jahre bis zu seinem Wechsel nach Berlin im Unternehmenscontrolling. Warum will er dann eigentlich aufhören, in diesem "besten Job im Parlament"?


„Ich will für meine Kinder da sein, das ist aber in diesem Job nicht vereinbar.“
Sven-Christian Kindler (Bündnis 90/Die Grünen)

Es gibt eben auch anderes, zum Beispiel Familie. Kindler hat zwei Kinder, und "ich will zur Hälfte die Verantwortung für sie übernehmen" - etwas, das mit einem Pendlerberuf zwischen Wahlkreis und der Hauptstadt schwer aufrechtzuerhalten ist. "Ich will für meine Kinder da sein, das ist aber in diesem Job nicht vereinbar", bilanziert er; gerade Haushälter stehen im Fokus der Interessen vieler: "Leute schreiben einem rund um die Uhr, da gibt es viel zu besprechen und viele Begehrlichkeiten." Die große Selbstwirksamkeit werde er vermissen, sagt er, das Bewegen und das Team, "aber das Pendeln sicherlich nicht. In Berlin war ich eher wie auf Montage: Früh raus, spät ins Bett. Und eben weg von der Familie." Dennoch, eine gewisse Wehmut werde bleiben.

Kindler setzt auf Selbstachtsamkeit

Die Entscheidung, dass diese Legislatur für ihn die letzte sein werde, traf er bereits 2020. "Ein Mandat ist immer auf Zeit, meine Entscheidung machte mich freier. Ich brauche niemandem zu gefallen." Der ständigen Erreichbarkeit im Beruf setzte er Versuche der Selbstachtsamkeit entgegen: Er meditiert mit Hilfe einer App, früh morgens vorm Gang ins Büro oder auch dort zwischendurch, "um den Zugang zu meinen Gefühlen zu erleichtern". 

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Kindler sieht für Abgeordnete die Gefahr, dass sie einer Reizüberflutung unterliegen. So viele Termine, so viel Hin und Her. "Man braucht Raum und Zeit, um die eigenen Gefühle zu spüren." Als er dies sagt, spricht er schneller, als wolle da etwas heraus. Politik, sagt er, sei ihm zuweilen zu hyperaktiv, zu aufgeregt. Sie gerate auf unnötige Weise hektisch und anstrengend. "Das kann aber auf Kosten des für die Politik wichtigen Weitblicks gehen." Fällt ihm ein Beispiel ein? "Nehmen wir die Klimainvestitionen, die brauchen wir zum Sichern der Zukunft - aber zu ihnen herrscht keine Einigkeit." Klar, dass ihm ein Beispiel aus der Welt der Zahlen einfällt. "Es gibt diese Tendenz, dass die Parteien mehr auf die Vergangenheit verklärend schauen, in der Gegenwart vom Krisenmanagement aufgefressen werden und weniger den Blick auf das wirkliche Gestalten der aktuellen mächtigen Entwicklungen richten." Draußen fliegen Krähen am Fenster vorbei.

Kindler streckt sich. Wo er sich beruflich einbringen wird, weiß er noch nicht. "Einen Karriereplan hatte ich noch nie." Zeit fürs Fußballspielen, eine alte Leidenschaft, werde es wohl geben - die fand er nicht einmal für den FC Bundestag, die Mannschaft der Abgeordneten. "Aber dem Pfadfindermotto, die Welt zu verbessern, will ich beruflich treu bleiben."