MINT-Arbeitskräftelücke : Quantensprung nötig
In technischen, naturwissenschaftlichen und IT-Berufen fehlen hunderttausende Fachkräfte. Zuwanderung, Bildung und Frauenförderungen sollen Abhilfe schaffen.
Quantencomputer sind sehr komplizierte Maschinen - und unterscheiden sich von dem, was man aus dem Büro kennt. Der im Januar dieses Jahres am Forschungszentrum Jülich in Nordrhein-Westfalen in Betrieb gegangene Rechner der kanadischen Firma D-Wave ist so empfindlich, das er in einem vibrationsfreien Hallen stehen muss. Damit der Rechner überhaupt rechnet, muss es der Prozessor auf knapp -273 Grad Celsius herabgekühlt werden. Rechnet ein normaler Computer mit Bits, die entweder den Zustand 0 (Strom aus) oder 1 (Strom an) annehmen können, werden bei den neuartigen Rechnern die Gesetze der Quantenmechanik genutzt, um künftig bisher nicht realisierbare Kalkulationen durchführen zu können.
In der Klimaforschung könnten mit solchen Computern präzisere Vorhersagen getroffen werden. Die neuartigen Maschinen können auch bisher unknackbare Verschlüsselungen brechen. Es ist eine echte Zukunftstechnologie, wortwörtlich ein Quantensprung, in die weltweit von Staaten und Konzernen investiert wird - und an der hochspezialisierte Physikerinnen, Mathematiker, Ingenieurinnen, Material-Expertinnen, Informatiker und Co. werkeln.
Komplexe Rechenmaschine: Der Quantencomputer am Forschungszentrum Jülich.
Bedarf: 10.000 bis 15.000 Vollzeitkräfte
Auch die vorherige und jetzige Bundesregierung ist an dem Thema dran. 2020 wurden schon zwei Milliarden Euro für die Förderung der Quantentechnologie ins Schaufenster gestellt, im aktuellen Haushaltsentwurf sind beispielsweise 165 Millionen Euro der Zuschüsse an das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) für "Bau und Entwicklung eines deutschen Quantencomputers und dazu passender Software für Anwendungen" vorgesehen. Und im Einzelplan des Forschungsministeriums findet sich noch ein kleiner, aber wichtiger Titel: Das Ministerium will "Maßnahmen zur Nachwuchsförderung und zum breiten Verständnis der neuen Technologien" fördern.
Das hat seinen Grund: Gegenüber dem Onlinemagazin "Merton" des Stifterverbandes schätzte DLR-Vorstand Hansjörg Dittus den Bedarf für Expertinnen und Experten in dem Bereich auf 10.000 bis 15.000 Vollzeitkräfte, es gebe aber nur einige hundert. Was für den Bereich der Hochtechnologie gilt, greift auch in vielen anderen Feldern, die unter dem Begriff MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) firmieren - es mangelt an Expertinnen und Experten.
Studie: Größter Engpass bei Facharbeitsberufen
Laut dem MINT-Herbstreport 2021 des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) besteht quer über die darin ausgewiesenen 36 MINT-Berufskategorien eine Arbeitskräftelücke von 276.900 Personen. Gegenüber dem Vorjahr - dem ersten Pandemiejahr - ist das eine Steigerung von 115 Prozent. Die Lücke ist zudem größer als in der letzten Vor-Corona-Erhebung im Herbst 2019, als sie bei 263.000 Personen lag. Die Lücke ergibt sich dabei aus der Differenz von offenen Stellen und geeigneten Arbeitssuchenden. Bezogen auf die Qualifikationsniveaus weist die regelmäßig für BDA, MINT Zukunft und Gesamtmetall erstellte Studie insbesondere bei den Facharbeitsberufen (130.010 Personen) den größten Engpass auf. Bei den akademischen Berufsgruppen fehlen 103.100 Personen, bei den Spezialisten- beziehungsweise Meister- und Technikerberufen 43.200. Als größte Engpassbereiche identifiziert das IW Energie- und Elektroberufe (81.300), Maschinen- und Fahrzeugtechnikberufe (49.000), IT-Berufe (46.400), Berufe der Metallverarbeitung (40.700) und Bauberufe (37.900).
Die Zahlen zur Arbeitskräftelücke bedürfen allerdings der Einordnung, wie sich etwa mit Blick auf die IT-Berufe zeigt. Für die IW-Studie bilden die amtlichen Statistiken der Bundesagentur für Arbeit (BA) die Grundlage, in denen Arbeitslose und offene Stellen vermerkt sind. Allerdings werden beispielsweise im IT-Bereich sehr wenig offene Stellen an die BA gemeldet. Die gemeldeten Zahlen werden daher hochgerechnet. Dabei werden unterschiedliche Methoden benutzt, sodass zum Beispiel ein Gutachten des Kompetenzzentrums Fachkräftesicherung (KOFA), das ebenfalls zum IW gehört, die Fachkräftelücke in den IT-Berufen im Oktober 2021 auf "nur" rund 28.700 bezifferte.
Bitkom: Zahl der offenen Stellen bei IT-Fachkräften gestiegen
Wiederum andere Zahlen lieferte Anfang des Jahres der Branchenverband Bitkom. Demnach stieg die Zahl der offenen Stellen bei IT-Fachkräften 2021 auf 97.000 an und lag damit um zwölf Prozent höher als im Vorjahr. Bitkom nutzt dabei Daten aus einer Umfrage unter Unternehmen. Die Zahlen geben nur die offenen Stellen an, ziehen also nicht die verfügbaren Arbeitskräfte ab. Zudem fehlt der öffentliche Sektor, der gerade im IT-Bereich ebenfalls erheblichen Personalbedarf hat.
Der Personaldienstleister Hays zählt auch Stellenanzeigen und vermeldete für das vergangene Jahr ebenfalls eine hohe Nachfrage. In jedem Quartal sind demnach über 100.000 Stellenanzeigen für IT-Fachkräfte veröffentlicht worden, für das vierte Quartal wurde ein Rekordwert gemeldet. Auch bei den Jobs für Ingenieure und Ingenieurinnen wurde im Fachkräfteindex des Personaldienstleisters ein Höchstwert verzeichnet. Dasselbe Bild zeichnet der Konzern für den Bereich der sogenannten Life Science. Bei Chemikerinnen und Chemikern, Biologinnen und Biologen und insbesondere Data Scientist steigt die Nachfrage rasant.
Angespannte Personallage ist Bremse für die Digitalisierung
Das Delta zwischen verfügbarem und gesuchtem Personal könnte ernste Konsequenzen haben: "Die angespannte Situation auf dem IT-Arbeitsmarkt bremst die Digitalisierung. In Corona-Zeiten ist überall spürbar geworden, dass wir an Tempo zulegen müssen. Umso ernüchternder ist es, dass dafür an vielen Stellen Fachkräfte und Know-how fehlen", sagte Bitkom-Präsident Achim Berg anlässlich der Vorstellung der Zahlen beispielsweise mit Blick auf die IT-Berufe. Das lässt sich analog auf fast alle MINT-Bereiche übertragen, ob nun bei Zukunftstechnologien wie Quantencomputer oder Künstliche Intelligenz, im Bereich der Wasserstofftechnologie oder der Pharma-Forschung.
Das Problem im MINT-Bereich ist allerdings schon länger bekannt. Als Antwort kristallisiert sich ein Dreiklang heraus: Neben qualifizierter Zuwanderung (siehe 17) wird auf Bildung in und außerhalb der Schulen gesetzt. Zudem sollen mehr Mädchen und Frauen für den Bereich begeistert werden, um so bisher ungehobene Potentiale zu aktivieren.
In der MINT-Bildung besteht allerdings teils erheblicher Handlungsbedarf mit Blick auf die Kompetenzen von Schülerinnen und Schüler - und auch dort droht ein massiver Fachkräftemangel. So resümiert das "MINT Nachwuchsbarometer 2021" der Körber-Stiftung, dass die mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen der Grundschulkinder in Deutschland unter dem EU- und OECD-Durchschnitt liegen. Bei der PISA-Studie 2018 lagen die in der Regel 15 Jahre alten Schülerinnen und Schüler in Deutschland bei den mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen immerhin über dem OECD-Schnitt, allerdings mit großen Unterschieden zwischen den Schülerinnen und Schülern.
Handlungsdruck besteht auch beim Lehrkräftenachwuchs. Der Bildungsforscher Klaus Klemm warnte in einer Studie für den Verband Bildung und Erziehung Anfang des Jahres, dass 2030 der Mangel ausgebildeter Lehrkräfte für die MINT-Fächer ein "dramatisches Ausmaß" annehmen werde. Allein in Nordrhein-Westfalen würden im Jahr 2030 "nur für ein Drittel der Stellen für MINT-Lehrkräfte, die dann neu besetzt werden müssen, neu ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer verfügbar sein".
Erhebliches Geschlechtergefälle bei einzelnen Ingenieurberufen
Eng mit dem Bereich Bildung ist auch die Förderung von Mädchen und Frauen verknüpft. Mit Blick auf die akademischen Berufe zeigt sich insbesondere bei einzelnen Ingenieurberufen ein erhebliches Geschlechtergefälle: Laut MINT-Herbstreport liegt der Frauenanteil beispielsweise im Bereich Energie- und Elektrotechnik bei rund zehn Prozent und im Bereich Metallverarbeitung bei rund elf Prozent. Im Bereich der "Sonstige naturwissenschaftliche Expertenberufe" liegt der Frauenanteil hingegen bei 72 Prozent. Darunter fallen Berufe im Bereich von Geologie, Geografie, Meteorologie und Pharmazie.
Die Herausforderungen sind auch hier groß. So berichtet die Körber-Stiftung, dass sich die genderspezifische Fächerwahl seit Jahren kaum verändere. In Physik und Technik dominierten die Jungen. Nur elf Prozent der jungen Frau wählten einen MINT-Ausbildungsberuf. Das zeigt sich auch bei der Studienwahl, wenn auch mit Einschränkungen: Laut Statistischem Bundesamt waren rund 34 Prozent der Erstsemester in den Mint-Fächern im Studienjahr 2020/21 Frauen. Es gibt allerdings erhebliche Unterschiede: Im Fach Maschinenbau waren beispielsweise darunter zwölf Prozent Frauen, in der Informatik 19 Prozent, im Fach Bauingenieurwesen 28 Prozent und in der Physik 30 Prozent. Im Fach Chemie war es knapp die Hälfte. In der Mathematik stellten Frauen mit 54 Prozent die Mehrheit, ebenso in der Biochemie mit 60 Prozent, der Biologie mit 70 Prozent und Pharmazie mit 72 Prozent.
eco Verband: Klare Positionierung zum Thema Diversität nötig
Neben Aus- und Weiterbildung ist offenbar auch ein Kulturwandel nötig. Frauen würden sich am Arbeitsplatz weitaus häufiger geschlechtsspezifischen Vorurteilen ausgesetzt sehen als Männer, stellte eine Umfrage des Internetbranchen-Verbandes eco Anfang März fest, etwa mit Blick auf Technikkompetenz. Das führe unter anderem dazu, dass in der ohnehin männlich geprägten Branche die Führungsetagen noch deutlich männlicher bestückt sind als die übrige Belegschaft. "Wer gute digitale Talente für sich gewinnen will, muss sich zum Thema Diversität klar positionieren und Frauen in allen Jobleveln sichtbar machen - das gilt insbesondere auch für Leitungspositionen", fordert daher Lucia Falkenberg, Chief People Officer beim eco Verband. Wie männlich dominiert die Branche ist, zeigt auch eine Erhebung von Bitkom aus dem März. In drei Viertel der Unternehmen liegt der Frauenanteil bei unter 25 Prozent. In knapp jedem zehnten Unternehmen, gerade in den kleineren, gibt es überhaupt keine Frauen in der Belegschaft. Hier scheint auch ein Quantensprung nötig. Immerhin: Jedes vierte Unternehmen hat sich konkrete Ziele gesetzt, den Frauenanteil zu erhöhen.