Marode Bahnnetze : Warum Zugfahren schwierig ist - und absehbar bleiben wird
Vor der Bahn und ihren Kunden liegt ein hartes Jahrzehnt. Doch nach Umbau und Sanierung soll alles besser werden. Kann der Kraftakt gelingen?
Wie schlimm steht es um die Deutsche Bahn? Manche sagen: So schlimm wie noch nie. Für dieses Urteil muss man kein Schwarzmaler sein. Ob Pendler, deren Frust am Gleis tagtäglich zunimmt; ob Geschäftsleute, die einen Termin nach dem anderen verpassen; ob Urlauber, die stundenlang im Internet nach einer internationalen Zugverbindung suchen; ob Wirtschaftsunternehmen, deren Güter auf der Schiene mitunter Tage auf sich warten lassen: Der Ärger wächst. Und jetzt kommen möglicherweise noch lange Streiks hinzu, nachdem die Tarifverhandlungen zwischen dem Staatskonzern und der Gewerkschaft EVG kurz vor der Ziellinie geplatzt sind.
So einzigartig desaströs dies alles erscheint: Schon einmal befand sich die Bahn in einer ähnlich verqueren Situation. Anfang der 1990er Jahre reagierte die Politik auf das komplizierte Zusammenwachsen der Deutschen Bundesbahn im Westen und der Deutschen Reichsbahn im Osten mit einem harten Schnitt, der sogenannten Bahnreform. Diese organisatorische Revolution war im Bundestag fast einstimmig gebilligt worden, mit 558 Ja-Stimmen, 13 Nein-Stimmen und vier Enthaltungen.
Mitglieder der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) demonstrieren vor dem Bremer Hauptbahnhof für höhere Löhne.
Kein Wunder, denn die mit der Reform angestrebten Ziele waren drängend. Man wollte einerseits mehr Verkehr auf die Schiene bringen. Denn zwischen 1950 und 1990 verlor die Bahn, namentlich die Bundesbahn in Westdeutschland, rasant an Bedeutung zugunsten der Straße. Der Marktanteil der Schiene sank im Personenverkehr von 37 Prozent auf sechs Prozent, im Güterverkehr von 56 Prozent auf 21 Prozent.
Zwiespältige Bilanz nach fast drei Jahrzehnten
Dazu kam der Wunsch, den Bundesetat zu entlasten. Experten zufolge wäre der öffentliche Finanzierungsbedarf für beide Bahnen von 27 Milliarden D-Mark 1991 auf 64 Milliarden D-Mark im Jahr 2000 angestiegen - ein gefährliches Haushaltsrisiko. Eine strikte unternehmerische Ausrichtung der neugegründeten Deutschen Bahn AG sollte Abhilfe schaffen.
Die Bilanz nach fast drei Jahrzehnten fällt zwiespältig aus. Zum einen ist der Schuldenberg wieder drastisch angewachsen. In der Zwischenzeit hat man den Konzern finanzmarkttauglich gemacht. Doch aus dem geplanten Börsengang wurde nichts, die Finanzkrise 2008 kam dazwischen. Das Drängen auf Rendite unter Bahnchef Hartmut Mehdorn macht mancher Kritiker heute für die schwierige Lage mitverantwortlich. Das Stichwort lautet: "kaputtgespart".
Es ist nur ein Teil der Wahrheit. Zu ihr gehört auch, dass die Bahn ein wenig Opfer des eigenen Erfolgs wurde und wird. Tatsächlich hat sie es geschafft, mehr Menschen und Güter in die Züge zu bringen. Seit der Bahnreform ist der Personenverkehr um 40 Prozent gestiegen, der Güterverkehr um 80 Prozent. Und dabei soll es nicht bleiben. Berlin betrachtet den Zug mit Blick aufs Klima als das entscheidende Verkehrsmittel. Bahnchef Richard Lutz lässt keine Gelegenheit aus, auf die Umweltfreundlichkeit zu verweisen. Deshalb gelten ambitionierte Vorgaben bis zum kommenden Jahrzehnt: Verdoppelung der Fahrgäste in den ICE-Zügen, Steigerung des Marktanteils im Güterverkehr von rund 19 Prozent auf 25 Prozent.
Schienennetz ächzt unter hoher Belastung
Klingt gut, aber: Das bedeutet sehr viel mehr Verkehr im gut 33.000 Kilometer langen Schienennetz zwischen Rügen und Freiburg, das in der Vergangenheit nicht aus-, sondern vielmehr abgebaut wurde und schon heute unter seiner hohen Verkehrsbelastung ächzt. Stand Ende 2022 bewegt die DB jährlich rund 1,7 Milliarden Reisende in Deutschland, davon gut 130 Millionen im Fernverkehr. Eigentlich sind das mit Blick auf das dichte Netz schon zu viele. Doch die Zahlen sollen in vergleichsweiser kurzer Zeit weiter kräftig steigen. "Starke Schiene" nennt das Verkehrsunternehmen sein ehrgeiziges Programm. Es sieht vor, die Zahl der ICE-Passagiere bis 2027 auf knapp 200 Millionen zu erhöhen und letztlich auf 260 Millionen. Den Nahverkehr will man von 1,6 Milliarden auf 2,25 Milliarden und schließlich auf 2,5 Milliarden Kunden jährlich ausweiten. Die Verkehrsleistung im Güterverkehr soll von 60 Milliarden auf mittelfristig 107 Milliarden Tonnenkilometer steigen.
Platz auf den Gleisen wird enger
Kann das gelingen? Es wird schwierig, zumal auch noch andere Unternehmen um den enger werdenden Platz auf deutschen Gleisen kämpfen. Die DB hat im Regionalverkehr und vor allem im Warentransport mit ernstzunehmenden Konkurrenten zu tun. Tatsächlich haben die privaten Gütertransporteure der Bahntochtergesellschaft DB Cargo im Lauf der Jahre erheblich Marktanteile weggenommen. Das heißt: Die Wettbewerber sind nicht zu vernachlässigen, wenn es um die "starke Schiene" geht.
Von "Stärke" kann indes gegenwärtig kaum die Rede sein, ganz im Gegenteil. Moderne Züge fahren häufig auf Opas Weichen und Gleisen. Manches Stellwerk hat schon den Krieg erlebt. Und auch neuere Verbindungen kommen in die Jahre, wie die mit der ICE-Einführung gebaute Schnellstrecke von Hannover nach Würzburg. Einige Hundert Baustellen im Netz täglich zeugen davon, dass viel zu tun ist: zu knapp, zu alt und zu störanfällig.
Zum Alter kommen gelegentlich noch andere Faktoren hinzu, die kaum jemand auf dem Zettel hatte. Schadhafte Betonschwellen waren die Ursache des Zugunglücks bei Garmisch-Partenkirchen im Juni vor einem Jahr, bei dem fünf Menschen starben. Daher werden im Rahmen eines vorbeugenden Prüfprogramms allein in diesem Jahr knapp eine halbe Million Schwellen ausgetauscht, fünfmal mehr als üblich. Das hat Konsequenzen: rund 400 zusätzliche Baustellen im Schienennetz, "die sich erheblich auf die Pünktlichkeit der Züge auswirken", wie der Konzern warnt.
Pünktlichkeit so schlecht wie nie zuvor
Pünktlichkeit ist aber die Münze, in der die Bahn ihre Qualität messen muss. Sie wird ohnehin schon sehr großzügig angesetzt. Ausfallende Züge werden nicht berechnet. Und "pünktlich" ist ein Zug, wenn seine planmäßige Ankunftszeit um weniger als sechs Minuten (und in einer noch großzügigeren Variante weniger als 16 Minuten) überschritten wird.
Im vergangenen Jahr war die Pünktlichkeit so schlecht wie selten zuvor. Während Regionalzüge generell deutlich besser abschneiden, mit Werten von üblicherweise mehr als 90 Prozent, erreichten ICE- und Intercity-Züge in manchen Monaten nicht einmal 60 Prozent. Selbst der notorisch unpünktliche Güterverkehr war mit 66,1 Prozent besser dran. Ob es besser wird, bleibt fraglich. Die Monate Januar bis Mai haben, mit Ausnahme eines Ausreißers nach oben, wieder eine sinkende Tendenz aufgewiesen.
Lokale Ausfälle wirken sich bundesweit aus
Warum schafft die DB nicht, was in Ländern wie Japan, Frankreich oder der Schweiz selbstverständlich ist - nämlich Züge pünktlich fahren zu lassen, am besten auf die Minute? Gerne verweist man darauf, dass schon die Netze nicht vergleichbar seien. Shinkansen- oder TGV-Züge, die japanischen und französischen Pendants zu den ICEs, sind auf eigenen Gleisen unterwegs. Sie müssen sich den Fahrweg nicht teilen mit Nah- oder Güterverkehrszügen. Ein sternförmiges Netz wie in Frankreich wiederum macht Fahrplanplanern weniger Sorgen als das komplexe deutsche. Und wenn auf vergleichbarer Basis rund dreimal mehr Geld in die Infrastruktur fließt, wie in der Schweiz, kommt das einem geregelten Betrieb sehr zugute.
"Hochleistungsnetz" heißt das Stichwort, an dem die Hoffnungen auf eine bessere Bahn hängen: 9.400 Kilometer, die die Infrastrukturprobleme in Deutschland langfristig beheben sollen. Zum Kern dessen gehört die Generalsanierung von 4.200 Streckenkilometern im hochbelasteten Teil des Schienennetzes bis 2030. Weitere 5.200 Kilometer will man so ertüchtigen, dass der Zustand dieser Strecken "einer Durchschnittsnote von 2,5 und besser" genügt. "Es gibt kein Stückwerk mehr. Alles wird aus einem Guss modernisiert und erneuert - vom verlängerten Bahnsteig bis zum digitalen Stellwerk", verspricht die DB. Genau das dürfte erhebliche Einschränkungen für Zugreisende mit sich bringen. Während früher die Devise galt "langwieriger Bau unter dem rollenden Rad", gilt heute: "komplett dichtmachen und schnell fertigwerden".
Zahlreiche Strecken müssen gesperrt werden
Das trifft von 2024 an im Jahrestakt die wichtigsten Abschnitte im Netz. Starten will man mit der Riedbahn zwischen Frankfurt und Mannheim. Fünf Monate - die Bahn stellt das Wörtchen "nur" vornedran - sind für die Generalsanierung dort veranschlagt. Am Tag nach dem Finale der Fußball-Europameisterschaft wird begonnen, an Weihnachten soll Schluss sein.
Freilich nur in Südhessen. Im Reigen der Generalsanierungen stehen 2025 die Korridore Hamburg-Berlin und Emmerich-Oberhausen an sowie 2026 voraussichtlich die Abschnitte Köln-Hagen, Hamburg-Hannover und Nürnberg-Regensburg. Später sind unter anderem Köln-Dortmund-Hamm an der Reihe (2027), Würzburg-Nürnberg (2028), Stuttgart-Ulm (2029) und Osnabrück-Münster (2030). Keine Frage: Das Jahrzehnt wird für Bahnkunden kein leichtes. Und doch ist die Bahn überzeugt: "Für mehr Qualität, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit auf der Schiene ist ein neues Sanierungskonzept alternativlos", wie Infrastrukturvorstand Berthold Huber formuliert.
Künstliche Intelligenz soll Verspätungen reduzieren
Nicht nur mit Bagger und Schaufel rückt die Bahn an, sondern auch mit Bits und Bytes. Künstliche Intelligenz soll Verspätungen reduzieren, eine entsprechende Software unterstütze Disponenten, um den Betrieb effizienter zu steuern. Damit will man deutschlandweit in diesem Jahr rund 90.000 Verspätungsminuten vermeiden. Und Anfang kommenden Jahres greift voraussichtlich eine Strukturmaßnahme innerhalb des Bahnkonzerns: Die von der Bundesregierung forcierte gemeinwohlorientierte Infrastrukturgesellschaft namens Infra Go ist zwar nicht gleichzusetzen mit der Trennung von Netz und Betrieb, die Kritiker in der Vergangenheit immer wieder anmahnten - aber ein Schritt dorthin.
In Deutschland dagegen wirken sich schon lokale Ausfälle bundesweit aus. Wenn auf der Strecke zwischen Mannheim und Frankfurt, eine der am stärksten befahrenen im ganzen Land, etwas schief geht, bekommt man das im ungünstigen Fall auch Hunderte Kilometer entfernt zu spüren. Lange Zug-Laufwege wie Hamburg-Berlin-Frankfurt-Stuttgart-München (1.297 Kilometer) oder Kiel-Hamburg-Köln-Frankfurt-Passau (1.225 Kilometer) sind anfällig dafür, einmal eingefahrene Verspätungen weiterzuschleppen. Stammkunden kennen die Gründe nur zu gut: Verspätung eines vorausfahrenden Zugs, Reparatur an der Strecke, verspätete Bereitstellung, unbefugte Personen auf der Strecke - die Liste scheint unendlich.
"Wir müssen radikal umsteuern", findet Bahnchef Lutz, der ein ums andere Mal betont, das Schienennetz habe "seine Belastungsgrenze erreicht" und die DB könne deshalb nicht die Qualität liefern, die die Kunden erwarteten. 80 Prozent des Aspekts Qualität gehen dem Manager zufolge auf das Konto der Infrastruktur, was bedeutet: mangelhafte Infrastruktur, mangelhafte Qualität des Angebots. Bis zum Ende des Jahrzehnts will man diesem Dilemma mit drastischen Mitteln zu Leibe rücken. Einerseits mit milliardenschweren Rekordinvestitionen, andererseits mit neuen Baustrategien.
Gewerkschaft EVG droht mit Streik
Im Berliner Bahntower ist vom Umbruch zu einer neuen Zeit die Rede. Doch bevor die Züge in den 2030er Jahren hoffentlich flüssiger rollen, steht mittelfristig Bau- und kurzfristig Streikärger auf der Tagesordnung. Die Gewerkschaft EVG hatte vergangene Woche die Gespräche mit der Bahn für gescheitert erklärt. Sie störte sich vor allem an der von der Bahn angebotenen langen Laufzeit des Tarifvertrags von 27 Monaten sowie an der Höhe der angebotenen Lohnerhöhung von zusammen 400 Euro in zwei Schritten. Die Bahn wiederum sprach von einer unnötigen Eskalation und einem "Unding". Nicht ausgeschlossen ist, dass die Sommerferien von Ausständen geprägt sind. Wie auch immer man es dreht und wendet: Zugfahren ist und bleibt schwierig, und um die Bahn steht es schlimm. Noch.
Der Autor arbeitet in der Wirtschaftsredaktion der FAZ.