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Mobilitätsforscher im Interview : "Wir hängen wie ein Junkie am Automobil"

Bei der Verkehrsplanung geht es nicht nur um Fortbewegung - es geht auch um die Frage: Wie wollen wir zukünftig leben, sagt Mobilitätsforscher Thomas Sauter-Servaes.

17.07.2024
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6 Min
Foto: ZHAW/Gian Marco Castelberg

Es braucht Vorstellungen von einem Leben ohne eigenes Auto, die als Gewinn, nicht als Verlust wahrgenommen werden, sagt Thomas Sauter-Serveas.

Herr Sauter-Servaes - hat das Auto seine besten Zeiten hinter sich?

Thomas Sauter-Servaes: Wir sollten weniger über Prognosen und Techniktrends reden, sondern uns mehr fragen: Wie wollen wir zukünftig leben? Wie sollen vor allem unsere Städte in Zukunft aussehen - und wie die Mobilität in diesen. Und da muss das Auto eine andere Rolle spielen als heute.

Wie würden Sie diese Rolle des Autos heute beschreiben?

Thomas Sauter-Servaes: Das Auto ist die Allzweckwaffe im Verkehrsbereich, der sprichwörtliche Hammer, mit dem jeder Transportbedarf zum Nagel wird.

Das heißt?

Thomas Sauter-Servaes: Es ist einfach, es ist bequem, es macht Spaß. Das Auto ist eine eierlegende Wollmilchsau: Ich kann damit zur Arbeit fahren, auf dem Rückweg die Kinder von der Schule abholen, den Großeinkauf erledigen, in den Urlaub verreisen - kurzum: Wir hängen wie ein Junkie am Automobil. Das macht es vielen so schwer, sich Gedanken darüber zu machen, wie eine menschenfreundlichere und enkeltaugliche Mobilitätskultur aussähe. Aber wir können es uns nicht leisten, so weiter zu fahren wie bisher.

In Umfragen gibt es viel Zustimmung für solche Sätze - dessen ungeachtet steigen die Kfz-Zulassungszahlen stetig weiter. Warum ist das so?

Thomas Sauter-Servaes: Mobilitätsroutinen sind extrem stabil. Selbst in Städten wie Berlin, in denen es hervorragende Verkehrsmittel-Alternativen gibt, steigt die Zahl der Besitzautos. Dabei brauchen wir den Platz dringend für andere Dinge.

Foto: ZHAW/Gian Marco Castelberg
Thomas Sauter-Serveas
ist Mobilitätsforscher an der School of Engineering der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Er beschäftigt sich unter anderem mit Mobilitätszukunftsforschung, Multimodalität, Mobilitätsökosystemen und Nachtzugverkehr.
Foto: ZHAW/Gian Marco Castelberg

Woran denken Sie dabei?

Thomas Sauter-Servaes: Zum Beispiel werden sich in den kommenden Jahren aufgrund des Klimawandels in unseren Städten immer mehr Hitzeinseln bilden. Darum brauchen wir mehr Flächen für kühlende Bäume und emissionsarmen Fuß- und Radverkehr. Diese Flächen müssen irgendwo herkommen.

Wo könnten die herkommen?

Thomas Sauter-Servaes: Wir müssen zu einem neuen Mobilitätsideal in der Stadt kommen. Brutal zugespitzt lautet die Frage: Wollen wir Städte für Autos oder für Menschen? Im Moment haben wir zu wenig Platz in den Straßen, um zu Fuß oder mit dem Fahrrad sicher unterwegs zu sein. Im Vergleich dazu wird sehr viel Fläche von privaten Fahrzeugen verbraucht, die im Durchschnitt 95 Prozent der Zeit Stehzeuge sind.

Ist es eigentlich gut und richtig, den Autoverkehr weltweit auf Stromantrieb umstellen zu wollen? Die Herstellung von Batterien ist ja auch nicht CO2-neutral. Und tauscht man nicht die eine Abhängigkeit von der endlichen Ressource Öl gegen die andere Abhängigkeit von endlichen Rohstoffen, die für die Produktion von Batterien gebraucht werden?

Thomas Sauter-Servaes: Da ist schon etwas dran, aber bei der Diskussion kommt mir zu kurz, was für Abhängigkeiten im Ölbezug lagen, wie viele Kriege ums Öl geführt wurden, wie viel Meeresverschmutzung wir zugelassen haben. Zumal bei den Batterien noch enormes Entwicklungspotenzial bei Materialien, Effizienz und Kreislauffähigkeit besteht; unklar ist, wie sie am Ende aussehen und worauf sie dann tatsächlich basieren werden. Das Thema Abhängigkeit sehe ich ganz woanders.


„Elektromobilität ist wichtig, wird im Kampf gegen den Klimawandel jedoch nicht reichen.“
Mobilitätsforscher Thomas Sauter-Serveas

Nämlich wo?

Thomas Sauter-Servaes: Wir machen derzeit letztendlich nichts anderes, als unsere Autoabhängigkeit zu zementieren. Wir hinterfragen unsere Autosucht nicht. Es bleibt dabei: Jeder Haushalt besitzt sein eigenes Auto, wenn nicht sogar zwei oder drei. Und damit wollen wir in die Zukunft rollen? Das wird nicht funktionieren. Schon weil das Auto an sich einen so hohen Ressourcenbedarf hat. Der E-Auto-Hersteller Polestar stellt sehr transparent den CO2-Footprint der eigenen Flotte dar. Demnach verursacht ein Polestar 3 CO2-Emissionen von knapp 25 Tonnen, bevor Sie einen Zentimeter gerollt sind. Wenn ich davon ausgehe, das Fahrzeug lebt zehn Jahre, dann kommen wir auf ungefähr 2,5 Tonnen CO2 pro Jahr und Erdenbürger. Die Rechnung kann nicht aufgehen.

Was macht es den Menschen so schwer, auf ein eigenes Auto zu verzichten und sich zum Beispiel stattdessen eines mit mehreren zu teilen?

Thomas Sauter-Servaes: Viele sind mit dem Blick aus dem Auto großgeworden. Es gibt da eine starke emotionale Komponente im Verhältnis zwischen Mensch und Auto. Man ist dem Wetter nicht ausgesetzt und man ist sicher. Man befindet sich im Auto in einem geschützten Kokon, in dem man sich mit niemandem ungewollt austauschen muss. Und die Automobilindustrie baut diesen Kokon immer kuschliger aus. Die heutigen Autos sind rollende Entertainmentmaschinen und sie werden immer größer. Solange wir noch mehr Straßen und billige Parkplätze bauen, werden sich die Leute nicht vom Automobil verabschieden. Vergleicht man den Preis für ein Jahr Anwohnerparken - also 13 Quadratmeter öffentlichen Raum - mit den Kosten für den entsprechenden Flächenanteil einer Mietwohnung, dann liegen Welten dazwischen. Es ist unglaublich, wie günstig Parkraum immer noch ist. Und vor dem Hintergrund ist klar, dass und warum wir keine Änderung sehen.

Was kann man tun?

Thomas Sauter-Servaes: Wir müssen zeigen, wo wir in 20 Jahren stehen wollen. Wir müssen ein Umparken im Kopf auslösen, so schnell wie möglich.

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Wie ließe sich das machen?

Thomas Sauter-Servaes: Ein wichtiger Aspekt sind verursachergerechte Preise im Verkehr. Ein entsprechendes Mobility Pricing benötigen wir ohnehin, weil wir mit dem zunehmenden Wegfall der Mineralölsteuer eine ganz andere Art der Infrastrukturfinanzierung aufbauen müssen.

Was heißt Mobility Pricing?

Thomas Sauter-Servaes: Mobility Pricing ist eine zum Beispiel nach Entfernung oder Uhrzeit nutzungsbezogene Abgabe für Infrastruktur und Dienstleistungen im Verkehr, unter anderem mit dem Ziel, die Verkehrsnachfrage möglichst effizient zu steuern.

Wie funktioniert das?

Thomas Sauter-Servaes: Insgesamt soll die Bepreisung fairer stattfinden, also verursachergerechter: Wer viel Fläche beansprucht, soll diesen Platzbedarf auch bezahlen. Das heißt, ein Mobilitätswende-konformes Mobility Pricing wird den motorisierten Individualverkehr teurer machen, und den ÖPNV günstiger. Die entscheidende Frage dabei wird sein: Wie sieht ein Modell aus, das tatsächlich den Anreiz zum Autoausstieg bietet? Man muss eine langfristige Exitstrategie aufzeigen und vorrechnen, was wann wie teuer wird und dass sich der Umstieg lohnt.

Sie sprachen vom Umparken im Kopf. Wie könnte eine positive Vorstellung von einer Welt mit weniger Autos aussehen?

Thomas Sauter-Servaes: Wir Verkehrswissenschaftler haben viele Zielbilder und Maßnahmen entwickelt - wir kriegen sie aber zu selten erfolgreich kommuniziert. Es gelingt uns bisher nicht, Vorstellungen von einem Leben ohne eigenes Auto zu erwecken, die als Gewinn und nicht als Verlust wahrgenommen werden.

Warum ist das so?

Thomas Sauter-Servaes: Das Leid ist offenbar nicht groß genug: die Staus nicht nervig genug, der Klimawandel zu wenig spürbar. Nur - je näher wir Kipppunkten kommen, umso radikaler werden wir dann gegensteuern müssen.

Wie ließe sich der Schalter umlegen?

Thomas Sauter-Servaes: Wir müssten verstehen: Mobilität ist nicht gleich Verkehr. Mobilität stellt einen Möglichkeitsraum dar; Freiheit ist nicht, kostengünstig möglichst weit fahren zu können - sondern einfachen Zugang zu haben zu allem, was man braucht.

Das klingt nach dem Pariser Projekt der "15-Minuten-Stadt"....

Thomas Sauter-Servaes: Genau. Weltweit greifen immer mehr Städte diese Idee auf: Leben, Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Dienstleistungen aller Art, Gesundheitseinrichtungen, Bildung und Unterhaltung sollen überall in der Stadt innerhalb von 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad von der eigenen Wohnung aus erreichbar sein.

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Das war die Utopie, die Anne Hidalgo 2014 als neu gewählte Pariser Bürgermeisterin propagierte.

Thomas Sauter-Servaes: Ja, in der jahrzehntelang von Autos geprägten Stadt entstanden Fahrradwege, Parks, Flanierzonen anstelle von breiten Straßen und Parkplätzen. In so eine Richtung müssen wir denken. Wir müssen Verkehrsplanung mehr mit Stadtplanung verknüpfen. Anders wird es nicht gehen. Wir müssen unsere Städte umbauen, Flächen neu verteilen, nur dann haben wir eine Chance, dass wir uns von der aktuellen Autoabhängigkeit emanzipieren. Ansonsten fahren wir genauso weiter wie bisher, nur elektrisch angetrieben. Elektromobilität ist wichtig, wird im Kampf gegen den Klimawandel jedoch nicht reichen.