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Experten zu Folgen des deutschen Kolonialismus : "Wo Deutsche auftauchten, waren sie bewaffnet"

Deutschlands koloniale Vergangenheit beeinflusst bis heute seine auswärtigen Beziehungen. Wie damit umzugehen ist, darüber streiten Experten.

18.10.2024
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3 Min

Zu den Auswirkungen des Kolonialismus und der deutschen kolonialen Vergangenheit auf die internationalen Beziehungen und die aktuelle deutsche Außenpolitik haben Sachverständige am Montag in einer öffentlichen Anhörung des Auswärtigen Ausschusses Stellung bezogen: Die Bandbreite der Beurteilung dieser Vergangenheit reichte von "genozidalen Exzessen" bis zur Rede von "höchsten Idealen der Kolonialmission". 

Foto: picture-alliance/dpa/Ullstein Bil

Deutsche Kolonialsoldaten, hier in einer zeitgenössischen Darstellung, schlagen 1904 im heutigen Namibia den Aufstand der Herero gewaltsam nieder. Es ist der Beginn eines Genozids.

Der Historiker Winfried Speitkamp, Staatssekretär im Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport, machte deutlich, in welchem Ausmaß die Fremdherrschaft in den damaligen deutschen Kolonien als Gewaltherrschaft erlebt wurde. "Wo Deutsche auftauchten, waren sie bewaffnet und setzten diese Waffen auch ein." Kolonialtruppen standen außerhalb des deutschen und des Völkerrechts, insbesondere im heutigen Tansania und Namibia gab es eine "Kriegsführung der extremen Gewalt" und "genozidale Exzesse", sagte Speitkamp. "Eine 'Politik der verbrannten Erde' entsprang keinem vorab fixierten Plan, sondern war Resultat der Entgrenzung von Gewalt." Diese Erfahrung sei noch heute präsent.

Warnungen vor Desinformationskampagnen 

Stefan Friedrich, Leiter der Abteilung Subsahara-Afrika der Konrad-Adenauer-Stiftung, argumentierte, eine wünschenswerte kritische Aufarbeitung der Vergangenheit dürfe nicht den eigenen außenpolitischen Interessen schaden. "Wir dürfen nicht naiv sein." Gerade in Afrika sei der Kolonialismusvorwurf eingebettet in massive Desinformationskampagnen von Russland und China. “Diese und auch afrikanische Autokraten bedienen sich der kolonialen Vergangenheit Europas, um sie als Waffen gegen den Westen zu nutzen.”

Aram Ziai, Leiter des Fachgebiets Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien an der Universität Kassel, machte auf einen jahrhundertewährenden Reichtumstransfer von Süd nach Nord aufmerksam: Der Reichtum aus südamerikanischen Edelmetallen habe zusammen mit dem transatlantischen Sklavenhandel und der Plantagenwirtschaft erst das Kapital zur Verfügung gestellt, mit dem die Industrialisierung in Europa finanziert werden konnte. "Auch im 21. Jahrhundert findet immer noch ein massiver Finanztransfer von Süd nach Nord statt." Ziai plädierte für die Schaffung eines Staateninsolvenzverfahrens und für ein internationales Schuldensystem, das mit der heutigen Dominanz der Gläubiger bricht.

Die deutsche Kolonialvergangenheit auf einen Blick

🌍 Kolonien des Deutschen Reiches umfassten zwischen den 1880er-Jahren und 1918 Gebiete in Asien und Afrika, darunter die größten im heutigen Namibia, Tansania und Kamerun. Deutschland war nach Großbritannien und Frankreich das der Fläche nach drittgrößte Kolonialreich dieser Zeit.

⚖️ Die Gewalt, mit der deutsche Kolonialherren ihren Herrschaftsanspruch durchsetzten, führte zu Aufständen der Einheimischen. Die Gräueltaten deutscher Truppen gegen die Herero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika bezeichnet die Bundesregierung inzwischen als "Völkermord".



Tanja Mancheno von der Forschungsstelle "Hamburgs (post-)koloniales Erbe" betonte, dass die "Signifikanz einer Erinnerung an die deutsche Kolonialgeschichte nicht mehr verhandelbar ist". Die entscheidende Frage sei, an welche Ereignisse erinnert werden solle und welche Erinnerungsformen sich als geeignet erweisen und welche nicht. Mancheno betonte die bedeutende Rolle der Zivilgesellschaft für diesen Prozess: Es gebe keine Gründe, die dagegen sprechen, "Deutschland wieder als Vorreiterland der Erinnerungskultur internationale zu positionieren".

“Ehrliche Auseinandersetzung" gefordert

Bruce Gilley von der Portland State University verwies in seiner schriftlichen Stellungnahme auf die Berliner Konferenz von 1884/85, "auf der die europäischen Mächte sich auf die höchsten Ideale der Kolonialmission einigten". Heute sähen deutsche Akademiker ihre Rolle darin, "das deutsche Volk für die Blutschuld des Kolonialismus vor Gericht zu bringen", so Gilley. Statt sich selbstbewusst und ehrlich mit Afrika auseinanderzusetzen, sei Deutschland "in einer Kultur der Schuld gefangen, die Reparationsgeschäfte und ineffektive Entwicklungshilfe hervorbringt".

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