Marie-Agnes Strack-Zimmermann im Interview : "Europa kann die Sicherheit nicht nur durch Schulden gewährleisten"
Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im EU-Parlament sieht großen Nachholbedarf bei der Abwehrbereitschaft. Beim Thema Schulden müsse Europa aber aufpassen.
US-Präsident Donald Trump hat den Europäern unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie sich künftig selbst um ihre Sicherheit kümmern müssen. Die EU hat auf ihrem jüngsten Gipfel beschlossen, souveräner zu werden. Wie schnell kann Europa das gelingen?
Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Wir haben sehr viel nachzuholen. Abgesehen von den Ländern, die direkt an Russland grenzen, haben so gut wie alle europäischen Länder nach dem Fall der Mauer 1989 ihre Verteidigungsbudgets stark gekürzt – auch neutrale Länder wie beispielsweise Österreich und die Schweiz.
Jetzt geht es darum, die Wehrfähigkeit wieder schnell und progressiv aufzubauen. Wir sprechen dabei nicht nur von Panzern, Marschflugkörpern und Luftabwehr, die gemeinhin mit Verteidigung assoziiert werden. Wir haben auch einen riesigen Nachholbedarf bei der Marine, der Cyberabwehr und dem Schutz unserer Unterwasserinfrastruktur, um Seekabel und Energieleitungen zu sichern – vom Schutz unserer Satelliten im Weltraum ganz zu schweigen. Das ist eine riesige Herausforderung. Ich gehe davon aus, dass wir in einigen Jahren diesbezüglich deutlich weiter sein werden.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat bei ihrem „ReArm Europe"-Projekt 800 Milliarden Euro für Verteidigung ins Schaufenster gestellt. Ist das eine realistische Summe?
Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Wir reden über enorme Summen, weil die EU-Mitgliedstaaten jahrzehntelang zu wenig für Verteidigung ausgegeben haben. Wir haben ja keine Verteidigungsunion, sondern jedes Mitgliedsland befehligt eigene Streitkräfte. Ohne Ausnahme müssen alle in Europa deutlich mehr in Sicherheit investieren.

Marie-Agnes Strack-Zimmermann sitzt seit Juni 2024 für die FDP im Europäischen Parlament und ist dort Vorsitzende des Ausschusses für Sicherheit und Verteidigung (SEDE).
In vielen EU-Ländern ist der Spielraum im Staatshaushalt gering. Deutschland will wie nie zuvor Schulden machen, um abwehrbereit zu werden. Gemeinsame Schulden wie beim Corona-Wiederaufbauprogramm stehen weiter im Raum. Können Schulden die Lösung sein, um Europa aufzurüsten?
Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Wir werden uns verschulden müssen, aber Europa kann die Sicherheit nicht ausschließlich durch Schulden gewährleisten. Sonst besteht die große Gefahr, dass der Euro destabilisiert wird, die Inflation steigt und unsere Bonität sinkt.
Haben Sie das Gefühl, dass der Ernst der Lage überall in der EU angekommen ist?
Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Ich weiß, dass in den baltischen und nordischen Staaten die Sicherheitslage seit Jahrzehnten sehr realistisch eingeschätzt wird. Bei den anderen Staaten Europas, die weit von der russischen Grenze entfernt liegen, bin ich mir nicht so sicher.
Für die Südeuropäer ist der Krieg in der Ukraine weit weg…
Marie-Agnes Strack-Zimmermann: …haben allerdings das Mittelmeer vor der Tür – mit Blick auf Nordafrika und den damit verbundenen eigenen Herausforderungen. Wenn Sie in Kreta leben, sehen Sie die Küstenlinie Libyens vor Augen. Leben Sie im Süden Spaniens, ist es nicht mehr weit nach Marokko.
Russland führt bereits einen hybriden Krieg gegen uns. Die ukrainischen Kornfelder hat Putin zum großen Teil von seiner Armee verminen lassen und damit die Ernte sowie die Ausfuhr des ukrainischen Getreides fast unmöglich gemacht. Hungersnöte werden ausgelöst – auch, weil durch die Verknappung des Getreides der Brotpreis ins Unbezahlbare steigt. Die Menschen werden schlimmstenfalls gezwungen, ihr Land zu verlassen – auch in Richtung Europa. Genau das will Russland damit erreichen: Migrationsströme auslösen, die über das Mittelmeer zu uns kommen. Insofern hat jedes Land sicherheitspolitische Herausforderungen zu schultern.
„Wir brauchen eine Koalition der Willigen, die vorangehen sollte.“
Haben Sie eine Erklärung dafür, was gerade zwischen Trump und Europa passiert?
Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Wir haben mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs 80 Jahre Frieden erleben dürfen. Eine so lange Friedensperiode hat es in der Geschichte Europas nicht gegeben. Wir haben uns aber daran gewöhnt und sie als Selbstverständlichkeit hingenommen. Die Vereinigten Staaten – das gehört auch zur Realität – haben uns schon seit Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass wir in Europa deutlich mehr für unsere Sicherheit tun müssen. Sowohl Bill Clinton als auch Barack Obama, Joe Biden und unüberhörbar in seiner ersten Regierungszeit Donald Trump.
Wir haben uns trotzdem zu sehr auf die Vereinigten Staaten verlassen und sind davon ausgegangen, im Ernstfall von den USA bedingungslos geschützt zu werden. Diese Ignoranz fällt uns nun krachend vor die Füße. Europa hätte spätestens nach dem ersten völkerrechtswidrigen russischen Überfall 2014 auf die Ukraine und die Annexion der Krim anfangen müssen, nicht nur 2 Prozent des BIP für Verteidigung zu versprechen, sondern diese Summe auch tatsächlich in die Hand zu nehmen und in die Verteidigungsfähigkeit zu investieren. Europa hat versagt und muss das jetzt schnellstmöglich nachholen. Darüber hinaus sollten wir uns – trotz der angespannten Stimmung zwischen der US-Administration und Europa – bemühen, den Gesprächsfaden mit Senatoren und US-Abgeordneten des Kongresses nicht abreißen zu lassen. Die USA waren Verbündete und Freunde. Wir haben ihnen viel zu verdanken.
Wie soll Europa mit Trump umgehen, der kaum einen Tag ohne Provokation vergehen lässt?
Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Nicht kurzatmig über jedes Stöckchen springen und möglichst einen klaren Kopf behalten – vor allem nicht in Panik ausbrechen, auch wenn Trumps freundschaftliche Nähe zu dem Aggressor Putin beängstigend ist. Auch wir sind an einem Frieden interessiert und sollten dies auch den USA signalisieren. Nicht jeder krasse Tweet aus dem Weißen Haus muss kommentiert werden. Die gute Nachricht ist doch, dass die europäischen Staaten zusammenstehen. Und das auch mit Europäern, die nicht in der EU sind – Großbritannien sucht die Nähe zur Europäischen Union. Vielleicht löst das auch ein inner-europäisches Wir-Gefühl aus. Das Verhalten der Ministerpräsidenten Ungarns, Viktor Orbán, und der Slowakei, Robert Fico, sollten wir uns allerdings nicht länger bieten lassen. Wir brauchen eine Koalition der Willigen, die vorangehen sollte.
Wir haben in der Vergangenheit erlebt, dass mehr Geld nicht unbedingt schnell zu höherer Abwehrbereitschaft führt, weil die Beschaffung sehr bürokratisch ist – gerade auch in Deutschland. Wird das künftig anders laufen?
Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Die Verteidigungsindustrie hätte gerne staatliche Aufträge mit sehr langen Laufzeiten. Vier- oder Fünfjahresverträge kann ich mir vorstellen. Sie werden aber vermutlich keinen Politiker finden, der Verträge über Legislaturperioden hinaus abschließt. Da muss die Industrie schon ins eigene Risiko gehen.
Die USA wollen die Erkenntnisse ihrer Geheimdienste nicht mehr mit der Ukraine teilen. Muss Europa sich da auch neu aufstellen?
Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Der Entzug von technischem Know-how angesichts der militärischen Lage in der Ukraine ist menschenverachtend. Wir werden nicht alles kompensieren können. Die USA sind ein Vollsortimenter. Aber genau deswegen müssen wir jetzt alles in Bewegung setzen, was die Ukraine und am Ende ganz Europa schützt.
Europa hat 250 Milliarden Euro an russischen Zentralbankmitteln eingefroren. Sollte die gesamte Summe der Ukraine zugutekommen?
Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Als Sicherheitspolitikerin plädiere ich dafür, die gesamten eingefrorenen Vermögen in die Hand zu nehmen, um sie der Ukraine zur Verfügung zu stellen – und nicht nur, wie bisher, die entsprechenden Zinsen. Auch wenn manche in der Wirtschaft davor warnen, dass dann Kapital aus Europa abfließen würde, weil Oligarchen ihr Geld lieber in den USA parken.
Wie wird es mit Ihrer Partei weitergehen?
Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Wir werden diese Niederlage aufarbeiten, aus Fehlern lernen und mit einem Team die Partei wieder zum Erfolg führen. Leicht wird das nicht, wenn man bundespolitisch keine Relevanz hat. Ich hoffe sehr, dass all die jungen, klugen, engagierten Mitglieder am Ball bleiben – auch wenn es momentan nichts zu verteilen gibt. Sie sind die Zukunft des organisierten Liberalismus.
Mehr zur europäischen Verteidigungspolitik

Die Europäische Union will sich nicht mehr auf den Schutz der USA verlassen und startet bei ihrem Sondergipfel eine Aufrüstungsinitiative.

Der Bundestag ratifiziert ein Abkommen mit Litauen über die Stationierung einer kampfstarken Brigade mit rund 5.000 Soldaten. Bis 2027 soll sie einsatzbereit sein.

Trumps Schwenk in der Außenpolitik hat Europa kalt erwischt. Es muss künftig selbst für seine eigene Verteidigung und die Sicherheit der Ukraine sorgen.