
EU-Gipfel für höhere Verteidigungsausgaben : Zweifel am Beistand
Die Europäische Union will sich nicht mehr auf den Schutz der USA verlassen und startet bei ihrem Sondergipfel eine Aufrüstungsinitiative.
Nüchtern betrachtet ist die Sache mit der Nato und Europa für den polnischen Premierminister eine Situation nicht ohne eine gewisse Komik: „500 Millionen Europäer bitten 300 Millionen Amerikaner, sie vor 144 Millionen Russen zu schützen“, schrieb Donald Tusk auf dem Kurznachrichtendienst „X“. Das war wenige Tage vor dem EU-Sondergipfel in Brüssel, auf dem die Staats- und Regierungschefs am 6. März über die weitere Unterstützung der Ukraine gegen den russischen Angriffskrieg beraten haben. Im Zentrum des Treffens stand die Frage, ob Europa für diese Unterstützung auch ohne die USA im Rücken bereit ist und wie sich die Europäer gegen die russische Bedrohung auf dem Kontinent behaupten können.
Alle 27 Mitgliedstaaten haben sich in Brüssel nun grundsätzlich hinter die Initiative der EU-Kommission gestellt, nach der bis zu 150 Milliarden Euro an EU-Krediten für Verteidigungsinvestitionen bereitgestellt und Ausnahmen in den EU-Schuldenregeln für Verteidigung ermöglicht werden sollen. Grundlage der Beratungen war ein Anfang März von der EU-Kommission vorgestellter Plan mit dem Namen „ReArm Europe“. Ziel ist es demnach, insgesamt fast 800 Milliarden Euro zu mobilisieren. Unter anderem soll die Europäische Investitionsbank (EIB) ihre Regeln für die Kreditvergabe so ändern, dass mehr Investitionen in Rüstungsprojekte gefördert werden können.
Die EU geht ohne Orban voran
Rückendeckung konnte sich auf dem Gipfel der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj holen, der Ende Februar bei seinem Besuch in Washington nach Meinung vieler Beobachter von US-Präsident Donald Trump und dessen Vize J.D. Vance vorgeführt worden war. Europa habe „ein starkes Signal an das ukrainische Volk, an die ukrainischen Krieger, an die Zivilbevölkerung, an alle unsere Familien“ gesendet. „Wir sind sehr dankbar, dass wir nicht allein sind.“

US-Präsident Donald Trump (Mitte), Vize J.D. Vance (rechts) und Wolodymyr Selenskyj während ihrer hitzigen Diskussion im Oval Office.
Selenskyjs Worte konnten aber einen entscheidenden Dissens nicht überdecken. Ungarns Premier Victor Orban ließ keinen Zweifel, dass er sich an der Seite von Donald Trumps und dessen Friedensplänen sieht – massiver Druck auf die Ukraine, Zugeständnisse für Russland. Die anderen 26 Mitgliedsstaaten bekräftigten ohne Orban, dass sie die „Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen“ weiterhin und uneingeschränkt unterstützen - inklusive Waffenlieferungen. Außerdem forderten sie für eine Beendigung des Krieges unter anderem glaubwürdige Sicherheitsgarantien. Friedensverhandlungen dürften nicht ohne ukrainische und europäische Vertreter stattfinden.
Vorstoß für einen europäischen nuklearen Schutzschirm aus Frankreich
Auch in einer anderen Frage gab es Dissens: Können sich Länder wie Deutschland, Italien, die Niederlande und Belgien weiterhin auf die nukleare Teilhabe der Nato und damit auf den US-Atomschirm verlassen? Der französische Präsident Emmanuel Macron hat erneut einen Vorstoß für einen europäischen nuklearen Schutzschirm gemacht, der auf der „Force de frappe“, den französischen Atomwaffen, basieren würde. Er habe vorgeschlagen, ein strategisches Gespräch mit den Mitgliedstaaten zu eröffnen, die interessiert seien, in dieser Frage voranzukommen, sagte Macron nach dem Gipfel.
Im Vorfeld des Treffens hatte Macron in einer Fernsehansprache an die Nation Russland als „Bedrohung für Frankreich und Europa“ bezeichnet. „Wer kann ernsthaft glauben, dass Russland bei der Ukraine Halt machen wird?“ Noch-Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) will wiederum am bisherigen Nato-Abschreckungssystem auf Basis der US-Atomwaffen festhalten. „Niemand plant, von der heutigen Situation wegzugehen, dass wir eine Vereinbarung in der Nato haben. Und das ist auch die gemeinsame Position aller relevanten Parteien in Deutschland“, sagte Scholz in Brüssel.

„Wir müssen uns darauf einstellen, dass Donald Trump das Beistandsversprechen des Nato-Vertrages nicht mehr uneingeschränkt gelten lässt.“
Beim CDU-Chef Friedrich Merz, der Scholz als Kanzler ablösen will, klingt das indessen anders. Er kündigte in einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ an, die Frage eines europäischen Nuklearschirms in den Koalitionsverhandlungen mit der SPD und auch mit den Partnern in Europa, der EU und der Nato diskutieren zu wollen. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass Donald Trump das Beistandsversprechen des Nato-Vertrages nicht mehr uneingeschränkt gelten lässt“, so Merz noch im Februar vor der Bundestagswahl.
Unterdessen untermauert die US-Administration ihr geplanten amerikanisch-russisches Rapprochement, das nichts anderes als eine 180-Grade-Wende darstellen würde. Der USA drohe mit der bisherigen Ukraine-Unterstützung eine „strategische Überdehnung“ ihrer Kräfte, sagte Trumps Ukraine-Beauftragter General Keith Kellogg in einer Rede vor dem „Council on Foreign Relations“ in Washington. Man müsse „die Beziehungen zu Russland neu ausrichten“, um die nationale Sicherheit der USA zu gewährleisten, sagte Kellogg mit Blick auf die geopolitische Rivalität mit China.
Kellog sieht Waffenlieferstopp als Verhandlungsstrategie
Er ging auch auf den Streit zwischen Trump und Selenskyj auf offener Bühne im Oval Office ein und den daraufhin angekündigten Stopp von US-Waffenhilfen und die Einschränkungen von US-Geheimdienstinformationen für die Ukraine. Die ukrainische Führung habe sich das „selbst eingebrockt“. Kellogg verglich die Situation mit einem „Maultier“, dem man nun mit einem „Kantholz“ ins Gesicht geschlagen habe. So bekomme man die „Aufmerksamkeit“. Wie das US-Magazin „Politico“ berichtet, hätten Trump-Emissäre auch das Gespräch mit Selenskyjs Vorgänger Poroschenko und der früheren Premierministerin Timoschenko gesucht, beide sind politische Gegner Selenskyjs.

Trumps Schwenk in der Außenpolitik hat Europa kalt erwischt. Es muss künftig selbst für seine eigene Verteidigung und die Sicherheit der Ukraine sorgen.

Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im EU-Parlament sieht großen Nachholbedarf bei der Abwehrbereitschaft. Beim Thema Schulden müsse Europa aber aufpassen.
Trump hatte jüngst Selenskyj beschuldigt, ein „Diktator ohne Wahlen“ zu sein, und angedeutet, dass er „nicht sehr lange“ im Amt sein würde, wenn er keinen Deal mit Russland abschließen würde. Hintergrund dieser Vorwürfe ist, dass die Wahlen in der Ukraine im Kriegszustand - im klaren Übereinklang mit der Verfassung und übrigens auch mit Vertretern der ukrainischen Opposition - ausgesetzt sind. „Wenn die Trump-Welt glaubt, dass die Ukrainer Selenskyj durch Poroschenko oder Timoschenko ersetzen werden, dann befinden sie sich in Wirklichkeit auf einem anderen Planeten“, kommentierte der Auswärtige-Chefkorrespondent des „Wall Street Journals“ Jaroslaw Trofimow auf „X“.
Auf Granit stieß ein Vorstoß des britischen Premierminister Keir Starmer und Macrons zu einer einmonatigen Waffenruhe als Schritt zu einem möglichen Friedensabkommen zwischen der Ukraine und Russland. Ihr Friedensplan sieht als erste Deeskalationsmaßnahme eine „Waffenruhe in der Luft, auf See und im Bereich der Energieinfrastruktur" vor. Der Plan sei „absolut inakzeptabel“, hieß es im Außenministerium in Moskau.