Krieg im Libanon : Die Furcht vor einem zweiten Gaza wächst
Israels Krieg gegen die Hisbollah stürzt den Libanon ins Chaos. Der ohnehin schwache Staat bietet den vor Bomben Geflüchteten kaum Hilfe. Die UN bitten um Spenden.
"Es ist, als wäre mein Verstand eingefroren, als ob ich in einem Schockzustand feststecke", sagt Farah Hijazi. Die 27-Jährige ist im Südlibanon aufgewachsen und hat in Mainz studiert. Mit Schrecken blickt sie in die Heimat, wo ihre Familie vor israelischen Luftangriffen fliehen musste. "Meine Eltern leben in einem Gebiet mit christlicher Mehrheit. Wie kann man alle Menschen als Terroristen bezeichnen?"
Weil Notunterkünfte fehlen, schlafen vielen Geflüchtete in improvisierten Zelten auf der Straße, oder wie hier in Beirut, am Strand.
Am 1. Oktober hat die israelische Armee begonnen, Truppen über die Grenze in den Süden des Libanons zu schicken. Die israelische Regierung begründet die Bodenoffensive damit, die Hisbollah zurückdrängen und ihre Infrastruktur zerschlagen zu wollen. Seit dem Hamas-Massaker am 7. Oktober hatte die vom Iran unterstützte Organisation Raketen auf Israel abgefeuert. Der Libanon wiederum wurde wiederholt Ziel israelischer Luftangriffe.
Netanjahu warnt vor einem langem Krieg
Mit der Invasion israelischer Truppen wächst in der libanesischen Bevölkerung die Angst vor Kriegsverbrechen und Besetzung. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu drohte bereits mit einem langen Krieg, der zu "Zerstörung und Leid wie im Gazastreifen" führen könne, sollten sich die Menschen nicht von der Hisbollah-Miliz befreien.
Schon jetzt sind laut offiziellen libanesischen Angaben seit Ausbruch der Gefechte vor einem Jahr mehr als 2.100 Menschen getötet worden; mehr als 10.000 Menschen wurden verwundet. Mit der Ausweitung der israelischen Angriffe fallen nun im Süd- und Ostlibanon, aber auch in Beirut Bomben. Drohnen surren in der Luft, Explosionen lassen Fensterscheiben klirren und Gebäude wackeln. Über eine Million Menschen, so schätzt das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR), sind in den vergangenen zwei Wochen vor den Angriffen geflohen.
Von der Regierung betriebenen Unterkünfte sind überlastet
"Wenn ich mich umschaue, sehe ich überall Menschen auf Gehwegen sitzen", sagt die 28-Jährige Baraa. Sie ist Mitarbeiterin der Organisation Save The Children im Libanon und erzählt von einer Schule in Beirut, die zur Notunterkunft wurde. "Die Räume sind überfüllt. In jedem Zimmer leben mehr als zehn Personen. Die Menschen können nicht duschen oder ihre Wäsche waschen."
Alle von der Regierung betriebenen Unterkünfte seien überlastet, meldete auch das UNHCR. Nahrungsmittel würden knapp. UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi rief bereits am Sonntag zu mehr internationaler Unterstützung auf, um die humanitäre Katastrophe einzudämmen.
Hilfe vom Staat können die Menschen dagegen kaum erwarten, der Libanon ist pleite. "Wir sind das Produkt eines klientelistischen, korrupten Systems, das über ein Jahrzehnt lang von der Hisbollah geschützt wurde", sagt Karim Safieddine. Der Doktorand forscht in den USA zu sozialen Bewegungen im Libanon. Die Hisbollah sei durch den früheren christlichen Präsidenten Michel Aoun sowie die Partei des schiitischen Parlamentssprechers Nabih Berri hofiert worden und in der Gesellschaft tief verwurzelt. Im dysfunktionalen Staat Libanon seien die Menschen auf die sozialen Dienste der konfessionellen Parteien angewiesen. Die Hisbollah etwa unterhält Schulen und Krankenhäuser.
Das multireligiöse Land ist gespalten, der Staat schwach
Der Libanon ist zutiefst gespalten. Neben Sunniten, Schiiten und Christen gibt es 15 weitere anerkannte Konfessionsgruppen. Im Bürgerkrieg zwischen 1975 und 1990 bekämpften sich diese in unterschiedlichen Konstellationen mit internationaler Unterstützung. Später wurden die Warlords zu Anführern von Parteien, die sich an der Staatskasse bedienten und einen Teil ihrer Klientel weitergaben: Sie verschafften Jobs, bezahlten Krankenhausrechnungen. So gewann die Hisbollah an Popularität.
"Doch Gerade jetzt braucht es soziale Gerechtigkeit und einen funktionierenden Staat", sagt Safieddine. Doch der Einfluss der Hisbollah lasse sich nur schwer brechen, gerade weil sie fest im Alltag der Menschen verankert sei. Auch der Abzug israelischer Soldaten im Jahr 2000 aus dem seit 1982 von Israel besetzen Süden nährt den Mythos der Hisbollah bis heute.
Aufklärung der Beiruter Hafenexplosion vor vier Jahren wird behindert
Doch der Rückhalt bröckelt: Bei den Parlamentswahlen im Jahr 2022 verloren die Hisbollah und ihre Verbündeten die Mehrheit. Laut einer aktuellen Umfrage des Arab Barometer haben 55 Prozent der Libanesinnen und Libanesen "überhaupt kein Vertrauen" in die Gruppe. Die Hisbollah hat zahlreiche politische Morde verübt und stützt das System der Straflosigkeit. Deutlich wurde das mit der Beiruter Hafenexplosion am 4. August 2020. Das explodierte Ammoniumnitrat wird der Hisbollah zugeschrieben - womöglich sollte es für Fassbomben an den syrischen Machthaber Baschar al Assad gehen. Die Hisbollah und ihre Verbündeten hindern aber die Justiz seit Jahren an der Aufklärung.
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Dass die Menschen das System dennoch stützten, sei nicht verwunderlich, so Safieddine: "Während der Krieg ihr Leben zerstört, sehen sie keine Alternative zu der Infrastruktur, die ihnen die Parteien und die Hisbollah bereitstellt." Die Lösung sei kein militärisches Vorgehen, sondern der Aufbau eines funktionierenden Staates von Innen. "Der Hisbollah entgegenzutreten ist unsere Herausforderung", sagt Safieddine. "Aber wenn Israel mit einer Invasion als Besatzungsmacht die Hisbollah bekämpft, dann richtet sich das gegen den gesamten Libanon." Die Polarisierung werde damit nur verstärkt und das Töten und Morden gehe weiter.
Die Autorin ist freie Korrespondentin in Beirut.