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Editorial : Der feine Zwirn

Es gibt gute Gründe, dass Abgeordnete nicht im Plenum sind. Bei der Rede des ukrainischen Präsidenten Selenskyj fehlten AfD und BSW. Doch warum?

14.06.2024
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2 Min

Der Gang ins Plenum zu Debatten und Reden ist im Bundestag nicht verpflichtend. Oft gibt es gute Gründe für Abgeordnete, etwas anderes zu machen. Redenschreiben, Gesetzesarbeit, Besucher empfangen, Anfragen beantworten, und vermutlich hat man auch manchmal einfach keine Lust. Eine neue Begründung lieferte nun die AfD, als sie neben dem BSW beschloss, der Rede des ukrainischen Präsidenten im Bundestag  nicht zuzuhören. Seine Amtszeit sei abgelaufen, er sei ein Kriegspräsident und - überspitzt wiedergegeben - statt Anzug trage er "Tarnanzug".

Eine Erzählung, die auch der Kreml bemüht.

Verfangen sollte dabei wohl nicht der Kleidungshinweis, sondern der auf Selenskyjs Amtszeit. Das ist eine Erzählung, die auch der Kreml bemüht. Offen lässt sie, ob denn Wahlen in der Ukraine derzeit möglich wären. Dass Selenskyjs Amtszeit in Friedenszeiten Mitte Mai ausgelaufen wäre, ist auch in der Ukraine jedem klar, das Land ist ein demokratischer Rechtsstaat. Doch nicht einmal die Opposition dort sieht die Möglichkeit für freie und faire Wahlen, wenn gleichzeitig fast ein Fünftel des Staatsgebietes besetzt ist, viele Millionen unter russischer Besatzung leben oder geflohen sind und hunderttausende ukrainische Soldaten in Schützengräben ausharren. Zur Erinnerung: Die Ukraine wehrt sich gegen den Angriff seines russischen Nachbarn.

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Wer seiner Rede fernblieb, verpasste einen Präsidenten, der im Bundestag, wenn auch nicht im feinen Zwirn, das Wort Frieden gleich elfmal benutzte. Dabei machte Selenskyj mit Blick auf die von Russland besetzten Gebiete aber auch klar, dass die Menschen in seinem Land keine Mauer akzeptieren können, die ihr Land zerteilt. Wo könnte man dies besser verstehen als in Deutschland?

Im Plenum zuhören: ein Privileg, das schnell vorbei sein kann

Mauern wirken lange nach. 34 Jahre nach der Wiedervereinigung lässt sich der ehemalige Mauerverlauf in Deutschland mit einem Blick auf die Karte der Europawahlergebnisse jetzt wieder ablesen. Im Westen dominiert die Union, im Osten die AfD. Die Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP erreichten bei dieser bundesweiten Wahl nirgendwo im Land eine Mehrheit. Ihr Los teilt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der die Europwahl ebenfalls verlor. Seine Konsequenz: Neuwahlen des französischen Parlamentes. So mancher Abgeordneter wird sich dort jetzt wünschen, noch öfter zu einer Debatte ins Parlament gehen zu dürfen.