Sebastian Hartmann im Interview : "Die Union steht seit dieser Woche auf der falschen Seite"
Der Innenexperte der SPD-Fraktion wirft der Union vor, nicht an Kompromissen in der Migrationspolitik interessiert zu sein. Vielmehr gehe es um einen Tabubruch.
Herr Hartmann, der Entwurf der Union für ein Zustrombegrenzungsgesetz hat im Bundestag keine Mehrheit gefunden. Sind Sie erleichtert?
Sebastian Hartmann: Nein. Denn es gab nach dem Antrag mit AfD-Mehrheit am Mittwoch heute den zweiten Versuch, den politischen Dammbruch zu vertiefen. Friedrich Merz hat sich verzockt. Ich frage mich dennoch, was kommt als Nächstes? Der politische Grundkonsens in Deutschland hat Schaden genommen.
Braucht es aus ihrer Sicht eine Begrenzung des illegalen Zustroms von Drittstaatsangehörigen nach Deutschland, wie es die Union fordert?
Sebastian Hartmann: Der inhaltlichen Forderung ist klar zuzustimmen. Wir müssen irreguläre Migration unterbinden. Das ist auch Teil unseres gesetzgeberischen Handelns. Wir haben temporäre Grenzkontrollen eingeführt, bekämpfen die Schleuserkriminalität und nehmen auch Zurückweisungen vor. Dem Ziel als solchem ist auch deshalb zuzustimmen, weil wir das Asylsystem auf Menschen ausrichten müssen, die tatsächlich einen Asylanspruch haben. Für sie muss es dann zügige Verfahren und eine Durchsetzung der Entscheidungen geben. Andere Gründe der Migration müssen auf fachgesetzlicher Basis wie etwa dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz geregelt werden.
Sie machen also schon einen Unterschied zwischen Asylmigration und Arbeitsmigration?
Sebastian Hartmann: Das ist ein grundlegendes Konzept. Wir wollen Migration steuern, da wir auf Migration – gerade von Fachkräften - angewiesen sind. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des demografischen Wandels.
Wenn Sie in der Zielrichtung übereinstimmen - warum ist es nicht möglich mit der Union gemeinsam Gesetze zur Begrenzung der irregulären Migration zu beschließen?
Sebastian Hartmann: Weil es der Union tatsächlich nicht um einen Kompromiss in der Migrationspolitik geht, sondern um einen Tabubruch, wenn sie ihren Fünf-Punkte-Plan mit den Stimmen der AfD durchsetzt und das Gleiche auch noch mit dem Zustrombegrenzungsgesetz versucht. Der Gesetzentwurf aus dem vergangenen Jahr ist im Übrigen völlig ungeeignet zur Verhinderung schwerer Straftaten. Mit ihm kann auch nicht das vorgebliche Ziel der Begrenzung des Zustroms erreicht werden. Er ist aus guten Gründen im Innenausschuss von SPD, Grünen und FDP abgelehnt worden.
Sebastian Hartmann ist seit 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages und seit 2021 innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion.
Auch die Länder hatten im Bundesrat Widerstand gegen den Gesetzentwurf angekündigt.
Sebastian Hartmann: Zurecht. So ein Gesetz geht nicht. Wir sind alle an Recht und Gesetz gebunden. Bundeskanzler Olaf Scholz hat bei seiner Regierungserklärung zuletzt wieder deutlich gemacht, dass Deutschland als Teil der EU vorbildhaft vorangeht und sich an europäisches Recht sowie deutsches Vertragsrecht hält.
Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz hält die Einwanderungs- und Asylpolitik der EU für dysfunktional und sieht nahezu eine Verpflichtung, dem nationalen Recht den Vorrang zu gewähren…
Sebastian Hartmann: Dafür müsste eine nationale Notlage erklärt werden. Eine Notlage, die dazu führt, dass man die EU-Regelungen dauerhaft nicht anwenden kann. Temporäre Grenzkontrollen sind aber auch nach Schengen-Regeln zulässig. Stellen wir jedoch dauerhaft das Schengen-Regime in Frage, kommt es zu einer Renationalisierung und es wird ein Dominoeffekt in Europa ausgelöst. Schlecht für Deutschland, denn wir profitieren von einem geeinten Europa – zum Beispiel dem Binnenmarkt. Durch die Renationalisierung kommen wir in eine Situation wie 2015 und 2016, als viele Staaten sagten, wir winken jetzt bloß noch durch.
Aber das machen sie doch jetzt auch…
Sebastian Hartmann: Deswegen gibt es ja den Kompromiss zum Europäischen Asylrecht, den wir als erster Staat umsetzen wollen. Dabei geht es um wirksamen Außengrenzschutz. Dort sollen auch die rechtstaatlichen Verfahren durchgeführt werden – auch Schnellverfahren bei Gruppen, die keine Aussicht auf Erfolg haben. Es geht auch um die Verhinderung der Einreise von Menschen, ohne dass sie registriert sind, sowie um einen verpflichtenden Solidaritätsmechanismus bei der Verteilung. Das europäische Asylsystem ist seit 2015 nicht mehr korrekt angewendet worden. Die Alternative dazu kann aber nicht Zerschlagung und Renationalisierung heißen. Das würde sich rächen.
Eine Registrierung setzt voraus, dass die jeweiligen Personen sich ausweisen können. Viele Asylbewerber reisen aber ohne Dokumente ein.
Sebastian Hartmann: Es gibt den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Asyl. Der muss individuell geprüft werden. Dass fliehende Menschen, die tatsächlich verfolgt werden, vor unserer Grenze stehen und nicht alle Papiere dabeihaben, weil sie auf der Flucht verloren gegangen sind, oder weil sie, um die Familie zu schützen, Papiere unterdrücken, ist doch klar. Diese Personen müssen biometrisch erfasst und registriert werden. Anders liegt es bei Einreisen durch illegale Schleusungen, oder Menschen, die aus anderen Gründen kommen. Daher müssen wir die Schleuserkriminalität bekämpfen. Wir wollen rechtsstaatliche Verfahren und wir wollen, dass das Asylrecht sich auf diejenigen konzentriert, die tatsächlich Asylanspruch haben.
Im Grundgesetz geregelt ist aber, dass kein Asylanspruch besteht, wenn man aus einem sicheren Drittstaat kommt, was bei Einreisen auf dem Landweg immer der Fall ist. Laut Merz trifft das deutsche Asylrecht noch auf weniger als drei Prozent der Asylbewerber zu .
Sebastian Hartmann: Darüber urteilen qualifizierte deutsche Behörden und Gerichte. Es ist zu erkennen, dass Menschen aus Syrien, aus dem Irak oder aus Afghanistan sehr hohe Quoten der Schutzgewährungen aufweisen. Die Zahlen von Friedrich Merz sind nicht zutreffend.
Was ist Ihrer Ansicht nach der Grund dafür, dass die Union, die im Herbst noch vor "Zufallsmehrheiten" gewarnt hat, jetzt auch die Zustimmung der AfD in Kauf nimmt? Der Wahlkampf?
Sebastian Hartmann: Sicher ist es auch dem Wahlkampf geschuldet. Es deckt aber auch die Prinzipienlosigkeit der Union auf. Wir hatten verabredet, Dinge nur zur Abstimmung zu stellen, wenn man gemeinsame Mehrheiten herstellen kann. Es folgte überraschend eine Art Erpressung, in dem gesagt wurde: Entweder ihr stimmt dem so zu oder ich suche mir meine Mehrheit woanders.
Merz sagt, er hätte lieber eine Mehrheit in der Mitte des Bundestages gefunden
Sebastian Hartmann: Es gab ja noch nicht mal den Versuch einer ernsthaften Verhandlung. Man muss jetzt davon ausgehen, dass Merz auch bei anderen Themen eine Mehrheit mit der AfD bildet. Der Dammbruch hat also stattgefunden. Die Freude der AfD darüber haben ja alle gesehen. Das hat gezeigt, dass sie sich als den wahren Sieger sieht.
Die Brandmauer zur AfD bringt die Union aber auch in eine schwierige Lage. Im Grunde kann sie nur mit SPD und Grünen koalieren, mit denen sie aber - beispielsweise beim Thema Migration - ihre Vorstellungen nicht umsetzen kann. Muss man da nicht Verständnis dafür haben, wenn die Union an der Brandmauer zumindest ein bisschen wackelt?
Sebastian Hartmann: Wenn ich den Blick nach Europa richte, stelle ich fest, dass konservative Parteien diese Brandmauer-Debatte entweder nicht geführt haben oder nach einiger Zeit Koalitionen mit der extremen Rechten gebildet haben. Wenn ich noch genauer hinschaue, ist das Ergebnis aber nicht die Stärkung der konservativen Parteien gewesen. In Österreich wird jetzt ein extrem rechter Kanzler mit Hilfe der Konservativen gewählt. Diese Taktik geht für die konservativen Parteien nicht auf.
CDU-Chef Friedrich Merz setzt einen Antrag zur massiven Verschärfung der deutschen Migrationspolitik durch - mit den Stimmen der AfD.
Sorgt der Fünf-Punkte-Plan der Union zur Begrenzung der Migration für mehr Sicherheit im Land? Martin Ferber und Markus Decker im Pro und Contra.
Die Union scheitert mit dem Versuch, ihr "Zustrombegrenzungsgesetz" auch mit Stimmen der AfD zu verabschieden. 338 Abgeordnete stimmten dafür, 349 gegen den Entwurf.
Existiert die Brandmauer noch?
Sebastian Hartmann: Selbstverständlich. Allerdings steht die Union seit dieser Woche auf der falschen Seite.
Dennoch kommt die SPD möglicherweise nicht umhin, in eine Regierung unter Bundeskanzler Friedrich Merz einzutreten. Wie soll das nach den aktuellen Ereignissen möglich sein?
Sebastian Hartmann: Mal abwarten. Gewählt wird am 23. Februar und Wahltage sind gute Tage. Diese Woche hat gezeigt, dass es auf eine Richtungsentscheidung hinausläuft, die zwischen Olaf Scholz und Friedrich Merz getroffen wird. Ich bin mir sicher, dass Olaf Scholz der nächste Kanzler ist.
Eine steile These angesichts der Umfragen. Stand jetzt gewinnt die Union, die ja nach wie vor eine Zusammenarbeit mit der AfD ausschließt. Wenn passiert aber, wenn es in Sachen Regierungsbildung keine Einigung mit der SPD oder mit den Grünen gibt?
Sebastian Hartmann: Da die gemachten Zusagen bezüglich eines Ausschlusses der AfD von der Union nicht eingehalten wurden, schließe ich nichts aus. Auch keine schwarz-blaue Koalition.