Reform des Wahlrechts : Weiter Streit über Wahlrechtsreform
Die Wahlrechtskommission legt einen Zwischenbericht mit zahlreichen Sondervoten vor. Die Ampel will das Wahlrecht ändern, die Union bleibt skeptisch.
Der Bundestag mit seinen derzeit 736 Abgeordneten soll wieder auf die Regelgröße von 598 Abgeordneten schrumpfen. Die Wahlrechtskommission, die im März damit beauftragt wurde, Vorschläge für eine Verkleinerung des Bundestages zu erarbeiten (20/1023), hat jetzt ihren Zwischenbericht vorgelegt (20/3250). Danach stehen die Chancen, dass der nächste Bundestag nur 598 Abgeordnete zählt, nicht schlecht. Unwahrscheinlich ist aber, dass ein neues Wahlrecht einvernehmlich verabschiedet wird. Der Ko-Vorsitzende der Kommission, der SPD-Abgeordnete Johannes Fechner, ist guter Dinge, dass die Verkleinerung des Bundestages "auch tatsächlich noch in diesem Jahr umgesetzt wird".
Neun Sondervoten zum Bericht
Die Empfehlungen der Ampel-Koalition wurden mehrheitlich beschlossen. Die übrigen Fraktionen haben ihre alternativen Vorschläge - auch zur Absenkung des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre und zur Verbesserung der Geschlechterparität im Parlament - in neun Sondervoten gekleidet.
Vier beziehen sich auf die Bundestagsverkleinerung, davon kommen zwei von der Unionsfraktion und den von ihr benannten Sachverständigen in der Kommission, eines von der AfD-Fraktion und eines von Halina Wawzyniak, der von der Linken benannten Sachverständigen.
Unversöhnlich gegenüber stehen sich die Reformvorstellungen von Koalition und Union. Beiden Modellen gemeinsam ist, dass sie die Zahl der Mandate auf 598 begrenzen würden. Doch während das Ampelmodell die Zweitstimme, also die Stimme für eine Partei, stärken will, zielt der Unionsvorschlag darauf ab, der Erststimme, der Stimme für einen Wahlkreiskandidaten, mehr Gewicht zu geben.
Koalition will Zweitstimmendeckung einführen
Zentrales Element im Vorschlag der Koalition ist die sogenannte Zweitstimmendeckung. Um Überhangmandate zu vermeiden, sollen einer Partei in einem Bundesland nur so viele Wahlkreismandate zugeteilt werden, wie ihrer Landesliste nach dem Zweitstimmenergebnis Mandate zur Verfügung stehen. Haben in einem Land mehr Kandidaten einer Partei in ihrem Wahlkreis die relative Mehrheit der Erststimmen erhalten, als der Partei Listenmandate zustehen, soll den Kandidaten mit der relativ geringsten Zahl an Erststimmen kein Mandat zugeteilt werden.
Das Phänomen, wonach eine Partei mehr Wahlkreise direkt gewinnt, als ihr nach dem Zweitstimmenanteil Mandate zustehen, tritt verstärkt bei der CSU in Bayern auf. Nach dem aktuellen Wahlrecht müssen diese Überhangmandate durch Mandate für die anderen Parteien so lange ausgeglichen werden, bis die Sitzverteilung das Zweitstimmenergebnis spiegelt. Dieses Verfahren bläht den Bundestag auf.
Beschrieben werden vier mögliche Mechanismen für die alternative Zuteilung des Wahlkreismandats, wobei die Zuteilung über eine Ersatzstimme zur Erststimme bevorzugt wird. Damit sollen Wähler zum Ausdruck bringen können, welcher Kandidat ihre "zweite Wahl" gewesen wäre.
Die Ersatzstimmen der Wähler, deren Erststimme wegen mangelnder Zweitstimmendeckung des bevorzugten Kandidaten nicht berücksichtigt werden konnte, würden dann zu den Erststimmen der anderen Wähler hinzugezählt. Der Wahlkreis ginge an den Kandidaten mit den meisten Stimmen bei gleichzeitig vorhandener Zweistimmendeckung.
Union sieht Reformvorschlag sehr kritisch
Die Vorstellung, dass ein Wahlkreissieger kein Mandat erhält, wird von der Union als verfassungsrechtlich "überaus problematisch" eingeschätzt. Das Gegenmodell der Union sieht vor, einen zu bestimmenden Anteil der 598 Mandate mit direkt gewählten Wahlkreisabgeordneten zu besetzen und einen weiteren Anteil mit Listenkandidaten der Parteien. Irgendwelche Verrechnungen zwischen den beiden Anteilen soll es nicht geben, weshalb im Ergebnis die Größe von 598 Abgeordneten eingehalten werden könnte.
Die AfD wendet sich in ihrem Sondervotum gegen das Ersatzstimmenmodell der Ampel. Stattdessen will sie Wahlkreise, deren Sieger keine Zweitstimmendeckung aufweisen, unbesetzt lassen. Die Linken-Sachverständige Wawzyniak will keine Vorfestlegung auf ein Ersatzstimmen-Modell. Der Gesetzgeber müsse das beste Modell in einen Gesetzentwurf überführen.
Wohl keine Mehrheit für Absenkung des Wahlalters
Anders als für eine Änderung des Bundeswahlgesetzes, wäre für eine Absenkung des aktiven Wahlalters von 18 auf 16 Jahre bei Bundestags- und Europawahlen eine Grundgesetzänderung erforderlich, für die Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat benötigt werden. Union und AfD lehnen die Absenkung in ihren Sondervoten ab, ebenso die Sachverständigen der Union. Zur Geschlechterparität haben Union und AfD weitere Sondervoten vorgelegt. Dieses Thema wird die Kommission, die Ende Juni 2023 ihren Abschlussbericht vorlegen soll, weiterhin beschäftigen.