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Gastkommentare : Entscheidung über die Reform von Paragraf 218 noch vor der Wahl?

Soll der Bundestag noch vor der Neuwahl über eine Reform des Paragrafen 218 abstimmen? Anna Lehmann plädiert im "Pro und Contra" dafür, Hagen Strauß rät davon ab.

06.12.2024
True 2024-12-11T10:48:23.3600Z
3 Min

Pro

Es ist an der Zeit: Der Antrag sollte eine Chance auf Anhörung und Zustimmung erhalten

Foto: Alex Viktorin
Anna Lehmann
leitet das Berliner Parlamentsbüro der "tageszeitung".
Foto: Alex Viktorin

Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft." So steht es im Strafgesetzbuch. Seit 1871 stellt der Paragraf 218 Abtreibungen als Tötungsdelikte grundsätzlich unter Strafe. Auch wenn Frauen, die eine Schwangerschaft nicht austragen wollen, heute nicht mehr ins Zuchthaus kommen, sondern in den ersten zwölf Wochen nach Beratung straffrei abtreiben können - kriminell ist ihr Handeln immer noch. Das ist eine Schande. Denn es hat Folgen: Abbrüche sind in der Ausbildung und als Kassenleistungen nicht vorgesehen; die Zahl der Ärztinnen und Ärzte, die sie praktizieren, sinkt seit Jahren; jede zweite Betroffene findet es schwierig, überhaupt an Informationen zu kommen.

Der Paragraf 218 ist ein Relikt aus Zeiten, in denen Männer in allen Belangen - Beruf, Ehe, Familie - über die Frau entscheiden durften. Als das Bundesverfassungsgericht 1993 den Schutz "vorgeburtlichen Lebens" vor das Recht der Frau am eigenen Körper stellte, war Vergewaltigung in der Ehe noch kein Verbrechen. Doch eine von der Ampel eingesetzte interdisziplinäre Expertenkommission kommt heute zu einem anderen Ergebnis: Die grundsätzliche Rechtswidrigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen widerspreche Verfassung und Völkerrecht. Der Paragraf 218 müsse reformiert, am besten gestrichen werden. Auch 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung sind dieser Ansicht.

Deshalb sollte der interfraktionelle Antrag eine Chance auf Anhörung und Zustimmung erhalten. Das wäre ein mutiger und selbstbewusster Akt in Zeiten, in denen Politiker mit frauenverachtenden Sprüchen erfolgreich hausieren gehen. Der nächste Bundestag wird sehr wahrscheinlich männlicher. 

Contra

Ein riskantes Spiel: Es gilt, besonders sorgsam vorzugehen

Foto: privat
Hagen Strauß
ist Hauptstadt-Korrespondent der "Rheinischen Post".
Foto: privat

Das kann man bei so einem heiklen Thema nicht ernsthaft wollen. Wer wenige Wochen vor der Bundestagswahl noch mit der Brechstange eine Neugestaltung des Paragrafen 218 herbeiführen oder zumindest den parlamentarischen Prozess dorthin in Gang setzen will, betreibt einen gesellschaftspolitischen Kamikaze-Kurs, den man nur schwerlich überzeugend erklären kann.

Die Ampel hatte drei Jahre Zeit, darüber zu diskutieren, die Ausschüsse zu bemühen, Experten zu hören und fraktionsübergreifend für Unterstützung zu sorgen. Das hat sie nicht getan, weil sie sich wie so oft nicht einig gewesen ist, inwieweit überhaupt die Notwendigkeit einer wie auch immer gearteten Reform besteht. Jetzt aber soll nach dem Willen insbesondere rot-grüner Abgeordneter alles hopplahopp gehen. Das ist keine verantwortliche Politik, sondern ein riskantes Spiel, wie es die Ex-Koalition schon öfter gespielt hat. Stichwort Selbstbestimmungsrecht, Stichwort Cannabisfreigabe.

Beim Paragrafen 218 wiegt dies indes besonders schwer. Mit Mühe wurde in den 1990er Jahren der gesellschaftliche und politische Friede beim Schwangerschaftsabbruch gefunden, und das mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts. Das heißt nicht, dass es nach mehr als 30 Jahren keinen Reformbedarf geben könnte. Aber gerade in diesem Bereich ist nicht nur das Gewissen der Abgeordneten besonders betroffen, sondern womöglich das Gewissen einer ganzen Gesellschaft. Von extrem schwierigen Rechtsfragen ganz abgesehen. Also gilt es, besonders sorgsam vorzugehen, Meinungen abzuwägen, auch in die Bevölkerung hineinzuhorchen. Das alles wird nun zunächst unterlassen. Die Vermutung drängt sich auf, dass es vor allem um ein ideologisch motiviertes Signal auf den letzten Metern bis zur Bundestagswahl geht. So wird der Paragraf 218 aber fast so behandelt wie irgendein schnödes Gesetzesvorhaben. Ein fataler Fehler. 

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