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Beratung von Gruppenanträgen : Vom Gruppenantrag zur Gewissensentscheidung

Im Bundestag sorgen Fraktionen für stabile Verhältnisse. Bei Gewissensentscheidungen ist das anders. Was hat es mit Gruppenanträgen und Gruppenverfahren auf sich?

02.12.2024
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4 Min

Normalerweise regelt ein Koalitionsvertrag die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag. Beinahe wortgleich findet sich dort jeweils ein zentraler Passus für die Arbeit der Abgeordneten, wie beispielsweise auch in der 20. Wahlperiode im Vertrag von SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen zur Fortschrittskoalition: "Im Bundestag und von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab.”

Warum sich die Fraktionen seit jeher bei Gruppenverfahren rausnehmen

Das schließt nicht aus, dass einzelne Abgeordnete einer Koalition gegen ein Koalitionsvorhaben stimmen, sie sind in erster Linie ihrem Gewissen verpflichtet. Doch die Fraktionen bündeln und kanalisieren diese Auffassungen durch ihre Arbeit, und eine Koalition bringt ihre Vorhaben gemeinsam und erst dann zur Abstimmung, wenn der Inhalt in allen Koalitionsfraktionen entsprechend gebündelt worden ist und auch einzelne Abweichler mit Blick auf die Sicherstellung einer Mehrheit toleriert werden können.

In einem Fall aber nehmen sich die Fraktionen seit jeher raus: Bei den Gruppenverfahren, die meist ethische Fragen berühren. Häufig ist dann von „Gewissensentscheidungen“ die Rede oder dass die Fraktionen die Abstimmungen freigeben. In partei- und fraktionsübergreifender Zusammenarbeit formulieren Abgeordnete bei diesem parlamentarischen Verfahren zu einem Thema unterschiedliche Lösungen und werben für diese. Manche dieser Debatten wurden zu „Sternstunden“ des Parlamentes.

Gruppenverfahren können kontroverse Fragen befrieden

Die Gruppenverfahren sind meist nicht für die schnelle Entscheidung gedacht. Ihr Wert liegt woanders. Zuletzt begannen solche Verfahren mit einer sogenannten Orientierungsdebatte, die den eigentlichen Beratungen der Anträge vorgelagert war. In der Orientierungsdebatte, wie beispielsweise 2022 zur Sterbehilfe oder 2019 zu nichtinvasiven Pränataltests, legen viele Abgeordnete ihre Sicht auf das Thema dar. Anschließend finden sich Unterstützer für unterschiedliche Anträge zusammen. Die Anträge selbst werden über Monate oder gar Jahre entwickelt. Es zeichnet solche Verfahren aus, dass am Schluss unterschiedliche Anträge auf die Tagesordnung des Bundestages kommen. 

In den Debatten wird bei Gruppenverfahren häufig der hohe Respekt für die jeweils andere Auffassung deutlich. Dies, die intensiven Beratungen und das lagerübergreifende und ausschließlich am Gewissen orientierte Verfahren, das meist kein „Richtig“ oder „Falsch“ kennt, kann zur Befriedung einer gesellschaftlich kontroversen Frage beitragen. Die „Sternstunde“. Doch nicht immer gelingt eine Sternstunde und manchmal führt auch das Gruppenverfahren nicht zur einer Befriedung, dies zeigte in dieser Wahlperiode die Debatte um eine Corona-Impfpflicht.

So werden Gruppenanträge vom Bundestag beraten

Für die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages ist ein Gruppenantrag ein Antrag wie jeder andere auch. Damit ein solcher Antrag zulässig ist, muss er wie jeder andere von Abgeordneten entwickelte Gesetzentwurf oder Antrag „von einer Fraktion oder von fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages unterzeichnet sein“, wie es in der Geschäftsordnung heißt. 

Sieht man von der Orientierungsdebatte ab, durchlaufen die Anträge das reguläre parlamentarische Verfahren. Die Fraktionen sorgen meist für einen herausgehobenen Debattenplatz auf der Tagesordnung im Bundestag und unterstützen das Gruppenverfahren.

Einige Verfahren in der Vergangenheit im Überblick

💉 Corona-Impfpflicht: Nach mehrmonatigen Beratungen und Verhandlungen lehnte der Bundestag 2022 alle Vorlagen für und gegen eine allgemeine Impfpflicht ab. Kein Konzept hatte eine Mehrheit gefunden.

👥 Sterbehilfe: Nach mehreren kontrovers geführten Debatten entschieden die Abgeordneten im November 2015 über vier fraktionsübergreifende Gruppenanträge mit dem Ergebnis, dass Beihilfe zum Suizid nur unter sehr eng gefassten Voraussetzungen erlaubt sein sollte und geschäftsmäßige Suizidbeihilfe unter Strafe gestellt wurde. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Verbot jedoch für verfassungswidrig erklärt, da es das Recht auf selbstbestimmtes Sterben übergehe.

🔬 Präimplantationsdiagnostik (PID): Im Juli 2011 stimmte der Bundestag nach langen Beratungen für eine Regelung der PID, nach der diese nur in Ausnahmefällen erlaubt sein soll, etwa wenn eine schwerwiegende Erbkrankheit oder Tot- oder Fehlgeburt drohen.

🤰 Schwangerschaftsabbrüche: Im Sommer 1992 debattierten die Abgeordneten bis in die Nacht über eine Neuregelung von §218 zur Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen. Bereits wenige Tage später stoppte das Bundesverfassungsgericht durch eine Einstweilige Anordnung die Neuregelung. Das heute geltende Abtreibungsstrafrecht wurde dann durch die Reform im Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz im Jahr 1995 geschaffen.



Eine Herausforderung kann die Reihenfolge der Abstimmung über die Anträge sein. Je nachdem, welcher Antrag zuerst und welcher sodann abgestimmt wird, kann Auswirkungen haben auf die Erfolgschancen. Wie entscheidend die Abstimmungsreihenfolge sein kann, zeigte die Debatte über die Impfpflicht in dieser Wahlperiode. Die Abgeordneten lehnten nach mehrmonatigen Beratungen und Verhandlungen alle Vorlagen für und gegen eine allgemeine Impfpflicht ab. Kein Konzept fand eine Mehrheit.

Gruppenanträge in der Phase einer Minderheitsregierung

In der aktuellen politischen Phase, in der sich keine Mehrheit von Abgeordneten durch einen Koalitionsvertrag gebunden fühlt, kann es eine weitere Art von Gruppenanträgen geben. Diese sind nicht auf ein geordnetes Gruppenverfahren gerichtet, sondern nutzen die unklaren und ungebundenen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag, um eine Entscheidung herbeizuführen. 

Es finden sich fraktionsübergreifend Abgeordnete zusammen, die einen Antrag formulieren und darauf setzen, dass dieser eine Mehrheit im Bundestag erhält. Dafür können sie ein sogenanntes Aufsetzungsverlangen der Geschäftsordnung nutzen. Voraussetzung für ein Aufsetzungsverlangen ist, dass seit der Verteilung der entsprechenden Vorlage als Bundestagsdrucksache drei Wochen vergangen sind.

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Gruppenanträge und Gewissensentscheidungen können zu “Sternstunden" des Parlamentes werden. Es gilt aber auch: Entscheidungen im Bundestag werden nicht gewissenhafter getroffen, weil sie zur Gewissensentscheidung erklärt werden.