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Foto: DBT/Thomas Koehler/photothek
Das reguläre Verfahren zur Bestimmung einer Tagesordnung im Bundestag ist nach dem Bruch der Ampelkoalition gestört.

Bundestag in der Phase einer Minderheitsregierung : Warum der Bundestag nicht zur Tagesordnung übergehen kann

Das Ampel-Aus hat Auswirkungen auf viele parlamentarische Abläufe – auch auf die parlamentarischen Verfahren für die Tagesordnung im Bundestag.

12.11.2024
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4 Min

Dort, wo normalerweise selbst der Applaus den Fraktionszwang kennt, wie der verstorbene Publizist Roger Willemsen es einst beschrieb, geht seit dem Scheitern der Ampel-Koalition vieles durcheinander. Im Bundestag fehlen die klaren Zuordnungen, nicht nur beim Applaus. Die nun für den 16. Dezember angekündigte sechste Vertrauensfrage in der Geschichte der Bundesrepublik ist ein Novum. Olaf Scholz ist der erste Bundeskanzler, der eine Vertrauensfrage nach einem Koalitionsbruch stellt. Er ist ein Minderheitskanzler ohne handlungsfähige Mehrheit. Das ist eine Herausforderung für den Bundestag. 

Zur Tagesordnung können die Abgeordneten beispielsweise nicht mehr so einfach übergehen, im wahrsten Sinne des Wortes. Nur vereinzelt hat es seit der Entscheidung des Kanzlers, den FDP-Vorsitzenden Christian Lindner als Bundesfinanzminister zu entlassen, noch Tagesordnungspunkte im Plenum gegeben. Der Grund: Seit dieser Entscheidung ist das reguläre Verfahren zur Bestimmung einer Tagesordnung im Bundestag gestört.

Wie kommt es zu einer Tagesordnung im Bundestag?

Die Tagesordnung wird im Regelfall „im Ältestenrat vereinbart“, wie es im ersten Absatz von Paragraf 20 der Geschäftsordnung des Bundestages zu lesen ist. Sie soll also gerade nicht durch Mehrheitsbeschluss, sondern im Wege der Vereinbarung festgelegt werden. Damit das gelingen kann, gibt es zu Beginn einer Wahlperiode eine Verständigung zwischen den Koalitionsfraktionen und der Opposition, und zwar sobald – aber auch nicht früher – feststeht, wer im Bundestag in der jeweiligen Wahlperiode Mehrheit und wer Minderheit sein wird. Es wird ein abstrakt definiertes und ausdifferenziertes Schema vereinbart, das entsprechend der jeweiligen Größe der Fraktionen für jede Sitzungswoche festlegt, wer wann welche Tagesordnungspunkte bestimmen darf. Im parlamentarischen Sprachgebrauch wird dies als „Klipp-Klapp-Schema“ bezeichnet. Im Bundestag stellt sich einer durch dieses Verfahren gefundenen Tagesordnung regelmäßig niemand entgegen.

Durch das Scheitern der Ampel-Koalition klippt und klappt dieses Schema nicht mehr. Es gibt nun mit der FDP eine Oppositionsfraktion mehr, und die übrig gebliebene rot-grüne Koalition ist gegenüber der Ampel kleiner. Kurz: Das Schema ist gestört. 

Nötig ist ein Arbeitsmodus für die Überbrückungszeit bis zum Ende der Wahlperiode, und der muss zwischen allen Fraktionen erst einmal erarbeitet werden. Die Tagesordnung wird derzeit also nicht reduziert, sie kann gar nicht erst aufgestellt werden. 

Zudem können mangels Mehrheit selbst die Regierungsparteien SPD und Grüne keine Tagesordnung mit einem Mehrheitsbeschluss durchsetzen. Auch für eine solche Verfahrensmehrheit müsste die Regierungskoalition auf Teile der Opposition zugehen. Für letztere gilt ebenfalls, dass sie diese Mehrheit bräuchte. Insbesondere Gesetzentwürfe, die in den Ausschüssen bereits beraten werden, können nur mit einer solchen Mehrheit im Plenum zur Abstimmung gebracht werden. 

Warum gibt es noch vereinzelte Tagesordnungspunkte?

Dass dennoch vereinzelt Tagesordnungspunkte im Bundestag aufgerufen werden, kann nun verschiedene Gründe haben. Der Ältestenrat kann sich auch außerhalb des „Klipp-Klapp-Schemas” auf eine Tagesordnung einigen. Zudem werden die Vereinbarungen des Ältestenrates in vielen Sitzungswochen des Bundestages noch durch interfraktionelle Vereinbarungen der Parlamentarischen Geschäftsführer ergänzt. 

Daneben gibt es aber vor allem ein parlamentarisches Pflichtprogramm für die Tagesordnung:

Pro Sitzungstag ist eine Aktuelle Stunde möglich

Aktuelle Stunden müssen als Minderheitenrecht auch in diesen Tagen auf die Tagesordnung, wenn eine Fraktion dies verlangt. Eine Aktuelle Stunde ist eine Aussprache über ein bestimmtes Thema von aktuellem Interesse. Pro Sitzungstag kann es dabei nur eine  Aktuellen Stunde geben. 

Das Fragerecht der Abgeordneten gehört zum parlamentarischen Pflichtprogramm

Auf das Grundgesetz zurückzuführen ist die Regierungsbefragung und die Fragestunde, die es auch jetzt noch auf die Tagesordnung des Bundestages schaffen. Beide gehen auf das verfassungsrechtlich gewährleistete parlamentarische Fragerecht zurück. 

Der Mittwoch einer Sitzungswoche ist für die Regierungsbefragung und die Fragestunde in der Praxis fest reserviert. 

Es gibt ein Minderheitenrecht auf Aufsetzung von Anträgen und Gesetzentwürfen

Die Geschäftsordnung kennt auch Aufsetzungsverlangen, die der Bundestag in der Tagesordnung berücksichtigen muss. Ein solche Verlangen gibt es allerdings nur für Vorlagen von Abgeordneten und nicht für Vorlagen der Bundesregierung. Das können Fraktionsvorlagen sein oder auch fraktionsübergreifende Gruppenanträge von Abgeordneten, wie beim AfD-Verbotsantrag einer Gruppe von 113 Abgeordneten verschiedener Parteien, initiiert von Marco Wanderwitz (CDU). Auch die beiden parlamentarischen Gruppen Die Linke und BSW haben diese Rechte vom Bundestag eingeräumt bekommen. 

Voraussetzung für ein Aufsetzungsverlangen ist, dass seit der Verteilung der entsprechenden Vorlage als Bundestagsdrucksache drei Wochen vergangen sind. Die Wochen sind dabei Zeitwochen und nicht etwa Sitzungswochen des Bundestages. Da dieses Verlangen ein Minderheitenrecht der Abgeordneten ist, kann es nicht mit Mehrheit abgelehnt werden. Als Ausnahme vom regulären Verfahren kann dagegen eine einmalige Vertagung auf die nächste Sitzung des Bundestages noch zulässig sein, denn das Minderheitsrecht erstreckt sich nicht auch darauf, den Zeitpunkt der Beratung bestimmen zu können.

Die Bundesregierung kann Erklärungen zu aktuellen politischen Themen abgeben

In dieser Woche bedeutsam wurde zudem eine weitere verfassungsrechtliche Vorgabe für die Tagesordnung. Der Bundeskanzler hatte von seinem Recht auf Abgabe einer Regierungserklärung Gebrauch gemacht. Dieses Verlangen muss der Bundestag umsetzen und einen entsprechenden Tagesordnungspunkt aufsetzen. 

Gleiches gilt auch für die Vertrauensfrage, die wichtigste Entscheidung, die nun von den Abgeordneten getroffen werden muss. 

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