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Bisherige Vertrauensfragen : Heikle Frage mit heftigen Folgen

Nach Brandt, Kohl und Schröder ist Olaf Scholz der vierte Bundeskanzler, der im Bundestag die Abstimmung über die Vertrauensfrage verlieren will. Ein Rückblick.

11.11.2024
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5 Min

Eigentlich soll der Artikel 68 des Grundgesetzes, der die sogenannte Vertrauensfrage regelt, der Stärkung der Regierung dienen. Danach kann der Bundespräsident den Bundestag auf Vorschlag des Kanzlers innerhalb von 21 Tagen auflösen, wenn dessen Antrag, ihm das Vertrauen auszusprechen, im Parlament keine Mehrheit findet.

Das Recht zur Auflösung erlischt freilich, sobald das Parlament einen anderen Kanzler wählt - eine Regelung, die an das "konstruktive Misstrauensvotum" erinnert. "Konstruktiv" deshalb, weil der Bundestag laut Grundgesetz-Artikel 67 "dem Bundeskanzler das Misstrauen nur dadurch aussprechen (kann), dass er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt". Das soll vermeiden, dass der Staat in einer Krise ohne handlungsfähige Regierung ist.

Foto: picture-alliance / dpa / dpaweb

Das rot-grüne Kabinett zu Beginn der Bundestagssitzung vom 1. Juli 2005, in der Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD, erste Reihe rechts) seine zweite Vertrauensfrage wie beabsichtigt verlor.

Zwei Mal wurde bislang ein konstruktives Misstrauensvotum beantragt; fünf Mal stellten Kanzler die Vertrauensfrage. Eigentlich als Disziplinierungsinstrument des Regierungschefs gedacht, um in schwierigen Situationen die eigenen Reihen zu schließen und Abweichler hinter sich zu zwingen, wurde die Vertrauensfrage in drei der fünf Fälle als Vehikel genutzt, um durch eine willentliche Niederlage eine Auflösung des Bundestages und Neuwahlen zu erreichen - so, wie es jetzt auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) anstrebt.

Unter Kanzler Willy Brandt hatten beide Instrumente 1972 Premiere

Den Anfang machte 1972 sein damaliger Amtsvorgänger Willy Brandt (SPD), der noch im April den Versuch der CDU/CSU überstanden hatte, ihn per konstruktivem Misstrauensvotum zu stürzen und Unions-Fraktionschef Rainer Barzel (CDU) zu seinem Nachfolger zu wählen. Für den Misstrauensantrag stimmten damals 247 Abgeordnete; erforderlich gewesen wären 249. Zwei Stimmen fehlten Barzel also, Brandt blieb Kanzler.

Später gab der CDU-Mann Julius Steiner an, er habe für Brandt gestimmt und dafür 50.000 D-Mark vom Parlamentarischen SPD-Fraktionsgeschäftsführer Karl Wienand erhalten - was dieser bestritt. In den 1990er Jahren dann enthüllte Ex-DDR-Spionagechef Markus Wolf, dass Steiner 50.000 D-Mark von der Stasi erhalten hatte - über deren Kanzleramtsspion Günter Guillaume dann Willy Brandt 1974 stürzte. Erst in diesem Jahrhundert schließlich erhärtete sich der Verdacht, dass auch der seinerzeitige CSU-Abgeordnete Leo Wagner von der Stasi bestochen worden war.

1982 stellten sowohl Schmidt als auch Kohl die Vertrauensfrage

Dem ersten Versuch eines konstruktiven Misstrauensvotums sollte im Parlament schon bald die erste Vertrauensfrage folgen. Nach dem gescheiterten Misstrauensvotum lehnte der Bundestag Brandts Etat mit 247 zu 247 Stimmen ab: ein Patt zwischen Koalition und Opposition. Als Brandt am 20. September 1972 im Bundestag seine Vertrauensfrage begründete, räumte er ein, dass der Artikel 68 "an sich anderen verfassungspolitischen Zielen dienen" sollte. Dennoch habe er diesen Weg gewählt, weil das Grundgesetz "weder die Selbstauflösung des Parlaments noch die Auflösung durch die Regierung kennt". Zwei Tage später fand sein Antrag, ihm das Vertrauen auszusprechen, wie gewünscht keine Mehrheit - Brandt hatte angekündigt, dass seine Minister nicht an der Abstimmung teilnehmen. Die Neuwahl bescherte der SPD ihr bislang bestes Wahlergebnis und Brandts zweite Kanzlerschaft.

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Hatten sowohl Misstrauensvotum wie Vertrauensfrage 1972 ihre Premiere, kam es 1982 gleich drei Mal zu ihrer Anwendung. Der - auch innerparteiliche - Streit um den von Brandt-Nachfolger Helmut Schmidt (SPD) initiierten Nato-Doppelbeschluss sowie um die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik ließ die sozialliberale Koalition zunehmend erodieren. Daher stellte der Kanzler die Vertrauensfrage, um, wie er im Bundestag am 5. Februar 1982 sagte, "ein Signal der Klarheit zu geben". Mit Erfolg, wie es schien: Alle Koalitionsabgeordneten sprachen ihm ihr Vertrauen aus.

Die Koalition war trotzdem am Ende. Am 17. September traten die vier FDP-Minister zurück, am 20. September einigten sich die Spitzen von Union und FDP, Schmidt am 1. Oktober per konstruktivem Misstrauensvotum durch CDU-Chef Helmut Kohl zu ersetzen und Neuwahlen am 6. März 1983 anzustreben. Durch die FDP ging ein tiefer Riss: Bei einer Probeabstimmung votierten 34 ihrer Abgeordneten für und 18 gegen Kohl. Im Bundestag warf Schmidt der FDP-Spitze einen "Vertrauensbruch" vor und die Liberale Hildegard Hamm-Brücher warnte, dass "der Weg über das Misstrauensvotum zwar neue Mehrheiten, aber kein neues Vertrauen in diese Mehrheiten schafft". Am Ende stimmten 256 von 495 Abgeordneten für den Antrag von Union und FDP: Kohl war Kanzler.

Karlsruhe wies Vorstöße gegen die Auflösung des Parlaments zurück

Er bekräftigte in seiner Regierungserklärung Mitte Oktober 1982, dass es im kommenden März Neuwahlen geben sollte, und stellte zwei Monate danach die Vertrauensfrage mit dem Ziel der absichtlichen Niederlage und Auflösung des Bundestages. Nachdem die neue Koalition "das Dringendste getan" habe, sei es "geboten, sich dem Votum des Wählers zu stellen", argumentierte er am 17. Dezember in der Debatte über die Vertrauensfrage und zeigte sich überzeugt, dass der von ihm "eingeschlagene Weg im Einklang mit dem Grundgesetz steht". Das sahen nicht alle so. Zwar "verlor" Kohl die Vertrauensfrage und Bundespräsident Karl Carstens folgte seinem Vorschlag, den Bundestag neu zu wählen, doch landete die Sache beim Bundesverfassungsgericht. Gegen Carstens' Anordnungen gab es eine Verfassungsbeschwerde, Abgeordnete reichten Organklage ein, doch die Richter wiesen diese Vorstöße zurück. Am 6. März 1983 bestätigten die Wähler Kohls Koalition.

Nach seiner 16-jährigen Kanzlerschaft kam 1998 Rot-Grün mit Gerhard Schröder (SPD) als Regierungschef. Der stellte seine Koalition 2001 vor eine Zerreißprobe, als er nach den Anschlägen vom 11. September die Abstimmung über den Anti-Terror-Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan mit der Vertrauensfrage verband. Er wollte so eine eigene Mehrheit für den von der Opposition befürworteten, in der Koalition selbst aber heftig umstrittenen Einsatz erzwingen. Zuvor hatten bereits acht Grünen-Abgeordnete den Einsatz abgelehnt, auch von Neinsagern der SPD war zu lesen, andere legten sich nicht fest. 

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Durch die Verknüpfung mit der Vertrauensfrage ging es nun aber auch um den Bestand der rot-grünen Bundesregierung. 341 Stimmen hatte die Koalition; um ihr Ende abzuwenden, mussten mindestens 334 zustimmen - ein enormer Druck auf jene, die Rot-Grün wollten, aber nicht den Einsatz. Einen Tag vor der Abstimmung am 16. November trat Christa Lörcher aus der SPD-Fraktion aus, eine der Neinsagerinnen. Schließlich rettete eine Absprache der acht Grünen die Koalition: Vier stimmten mit Nein, vier mit Ja. 336 Stimmen bekam Schröder so zusammen, und FDP-Fraktionschef Wolfgang Gerhardt lästerte in der Aussprache, wie folgsam die Grünen nach Anwendung dieses "pädagogischen Rohrstocks" seien.

Anders als Brandt und Kohl verlor Schröder die angestrebte Neuwahl

Am Ende besiegelte dann doch eine Vertrauensfrage - die bislang letzte - das Aus für Rot-Grün. Als nach den Hartz-IV-Reformen im Mai 2005 in Nordrhein-Westfalen auch die damals letzte rot-grüne Landesregierung abgewählt wurde, ließ Schröder verkünden, vorzeitige Bundestagswahlen anzustreben. Dazu folgte er dem Beispiel von Brandt und Kohl und stellte die Vertrauensfrage mit der erklärten Absicht, keine Mehrheit zu erhalten - eine "fingierte" Vertrauensfrage, schimpfte Werner Schulz (Grüne) in der Aussprache am 1. Juli. 

Zwar hätten die Grünen, wie ihr Außenamtschef Joschka Fischer deutlich machte, die Wahlperiode gerne bis zum regulären Ende 2006 fortgeführt, doch enthielten sich letztlich 148 Koalitionsabgeordnete bei der Abstimmung, und auf Schröders Vorschlag hin löste Bundespräsident Horst Köhler den Bundestag auf. Eine Organklage von Schulz und der SPD-Abgeordneten Jelena Hoffmann scheiterte vor dem Verfassungsgericht, Schröder dagegen bei der vorgezogenen Bundestagswahl vom 18. September 2005, die die Union knapp vor der SPD gewann und mit den Sozialdemokraten eine Große Koalition bildete - mit Angela Merkel (CDU) als neuer Kanzlerin.