Wege zu Neuwahlen : Wann der Bundestag aufgelöst werden kann
Das Ende einer Koalition kann in Deutschland vieles heißen. Was genau sagt das Grundgesetz über den Weg zur Auflösung des Bundestages und zu vorzeitigen Neuwahlen?
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Etwas Ruhe in das Chaos nach dem Bruch der Ampel und der Ankündigung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), erst am 15. Januar 2025 im Bundestag die Vertrauensfrage stellen zu wollen – dieses Signal wollte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Donnerstagvormittag aus Schloss Bellevue senden: „Unsere Verfassung hat Vorsorge getroffen für den Fall, der jetzt eingetreten ist“, sagte Steinmeier. Und weiter: „Unser Land braucht stabile Mehrheiten und eine handlungsfähige Regierung. Das wird mein Prüfungsmaßstab sein“, appellierte er an alle, der Verantwortung in der Phase des Umbruchs gerecht zu werden.
Dass eine regierende Koalition vor Ablauf der vierjährigen Legislatur keine Mehrheit mehr im Bundestag hat, ist in der 75-jährigen Geschichte der Bundesrepublik sehr selten. Zu vorgezogenen Bundestagswahlen kam es bisher dreimal – ausgelöst durch gescheiterte Vertrauensfragen in den Jahren 1972 (Willy Brandt, SPD), 1982 (Helmut Kohl, CDU) und 2005 (Gerhard Schröder, SPD). Welche Möglichkeiten gibt das Grundgesetz für eine vorzeitige Auflösung und zur Abwahl einer Regierung?
Warum sich der Bundestag nicht selbst auflösen kann
Nach der Verfassung dürfen die Abgeordneten nicht selbst über die Auflösung des Bundestages entscheiden – und auch Bundeskanzler und Bundespräsident können dies nicht allein. Diese Konsequenz zogen die Väter und Mütter des Grundgesetzes 1949 aus den instabilen Weimarer Verhältnissen. Häufige Neuwahlen, Regierungswechsel und Blockaden, die das Land unregierbar machen, sollten so verhindert werden. Das Grundgesetz lässt eine Parlamentsauflösung daher nur dann zu, wenn sich erwiesen hat, dass sich im Bundestag keine regierungsfähige Mehrheit (mehr) formieren kann. Und selbst dann ist eine Auflösung keineswegs die einzige Option.
Möglichkeit 1: Die (gescheiterte) Kanzlerwahl (Artikel 63, Absatz 4)
Zu Beginn einer Legislaturperiode oder wenn der Kanzlerposten aus anderen Gründen nicht besetzt ist, beispielsweise durch den Rücktritt eines Bundeskanzlers, kann der Bundespräsident das Parlament auflösen, wenn der Bundestag trotz wiederholter Versuche nicht mit der absoluten Mehrheit einen neuen Bundeskanzler wählt. Der Bundespräsident hat für diese Entscheidung eine Bedenkzeit von sieben Tagen nach dem so genannten dritten Wahlgang. Neuwahlen müssen dann innerhalb von 60 Tagen stattfinden.
Möglichkeit 2: Die Vertrauensfrage (Artikel 68 GG, Absatz 1)
Der Kanzler kann im Bundestag die Vertrauensfrage stellen, um festzustellen, ob ihm die Abgeordneten noch die nötige Unterstützung zusichern. Verknüpft werden kann die Vertrauensfrage mit einem konkreten Gesetzesvorhaben. Erhält der Bundeskanzler keine Mehrheit, kann er den Bundespräsidenten bitten, den Bundestag aufzulösen, da die Bundesregierung nicht mehr handlungsfähig ist. Dies muss innerhalb von 21 Tagen geschehen – zwischen Antrag und Abstimmung müssen zudem 48 Stunden liegen.
Welche Beispiele gibt es dafür in der Geschichte der Bundesrepublik?
Fünfmal wurde in der Geschichte des Bundestages bislang die Vertrauensfrage gestellt. Die Fälle verdeutlichen die unterschiedlichen Zwecke, die mit einer Vertrauensfrage erreicht werden können. Beim ersten Mal (Willy Brandt am 20. September 1972) sollte aufgrund einer parlamentarischen Pattsituation der Weg zu Neuwahlen freigemacht werden. Zehn Jahre späte folgte die zweite Vertrauensfrage (Helmut Schmidt am 5. Februar 1982). Sie diente dem Kanzler zur Stabilisierung der Regierungskoalition. Bei der dritten Anwendung (Helmut Kohl am 17. Dezember 1982) ging es um das Ermöglichen von Neuwahlen nach einem durch ein konstruktives Misstrauensvotum herbeigeführten Regierungswechsel.
1982 ließ sich Kanzler Helmut Schmidt (SPD) in einer Koalitionskrise das Vertrauen aussprechen. Trotzdem zerbrach seine Koalition mit den Liberalen bald darauf - die FDP-Minister erklärten ihren Rücktritt.
Fast zwei Jahrzehnte lang musste danach kein Kanzler mehr zu diesem Mittel greifen, ehe Gerhard Schröder am 13. November 2001 mit einer Vertrauensfrage die Zustimmung seiner Koalition zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan sicherstellte. Beim bislang letzten Vertrauensantrag (Gerhard Schröder am 27. Juni 2005) zielte Schröder von Beginn an auf Neuwahlen, angesichts eines empfundenen Vertrauensverlustes der Regierungskoalition in der Öffentlichkeit, die zu einer als brüchig empfundenen ebenfalls rot-grünen Regierungsmehrheit führte.
Nach dieser letzten Vertrauensfrage hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass das Grundgesetz auf eine handlungsfähige Regierung abzielt und die auf die Auflösung des Bundestages gerichtete Vertrauensfrage nur gerechtfertigt sei, „wenn die Handlungsfähigkeit einer parlamentarisch verankerten Bundesregierung verloren gegangen ist.“
Muss der Bundestag nach einer verlorenen Vertrauensfrage aufgelöst werden?
Nein. Weder muss der Bundespräsident als Reaktion auf eine verlorene Vertrauensfrage den Bundestag auflösen, noch muss diesen der Bundeskanzler überhaupt um die Auflösung bitten. Der Kanzler kann auch anders reagieren und beispielsweise seinen Rücktritt erklären oder sich für eine Minderheitsregierung ohne Mehrheit im Bundestag entscheiden. Der Rücktritt würde wieder zur Kanzlerneuwahl nach Artikel 63 des Grundgesetzes führen, mit der möglichen Folge einer Auflösung des Bundestages, sollte diese Wahl scheitern.
Und was ist mit einer Minderheitsregierung?
Eine Minderheitsregierung, wie sie am Mittwoch Realität geworden ist, muss sich für jedes Gesetzesvorhaben Mehrheiten im Parlament suchen. Minderheitsregierungen auf Bundesebene sind in der Geschichte der Bundesrepublik sehr selten und hielten nur wenige Wochen: 1966 unter Ludwig Erhard (CDU) und 1982 unter Helmut Schmidt (SPD).
Fällt die Entscheidung des Kanzlers auf das Anführen einer Minderheitsregierung, könnte dabei die Stunde der im Grundgesetz vorgesehenen Regelung des Gesetzgebungsnotstandes schlagen. Der ist in Artikel 81 ausschließlich für die Konstellation einer verlorenen Vertrauensfrage ohne Parlamentsauflösung geregelt und kann im Ergebnis dazu führen, dass Gesetze auch gegen den Willen des Bundestages als zustande gekommen gelten. Nötig wäre dafür die Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes durch den Bundespräsidenten, die dieser nur mit Zustimmung des Bundesrates vornehmen darf, sowie eine Zustimmung des Bundesrates zu dem vom Bundestag abgelehnten konkreten Gesetzentwurf.
Möglichkeit 3: Das Misstrauensvotum (Artikel 67 GG)
Liegt das Heft des Handelns bei der Vertrauensfrage in der Hand des Bundeskanzlers, so ist das konstruktive Misstrauensvotum nach Artikel 67 des Grundgesetzes das Pendant in der Hand der Abgeordneten. Der Bundestag kann dem Bundeskanzler und seiner Regierung das Misstrauen aussprechen, indem er mit absoluter Mehrheit einen Nachfolger wählt und den Bundespräsidenten ersucht, den bisherigen Kanzler zu entlassen. Der neu Gewählte muss dann vom Bundespräsidenten als neuer Bundeskanzler ernannt werden. Der alte Kanzler und auch alle Bundesminister verlieren damit sofort ihr Amt. Ein Kanzlersturz ist also zugleich auch ein Sturz der gesamten Regierung. So geschehen 1982, als die FDP den bisherigen Koalitionspartner SPD verließ und nach einem Misstrauensvotum Helmut Kohl Helmut Schmidt als Kanzler ablöste.
Zwar ist die Abhängigkeit einer Regierung vom Parlament ein Wesensmerkmal jedes parlamentarischen Regierungssystems, doch ist die Ausgestaltung des konstruktiven Misstrauensvotums in Deutschland weltweit und in der deutschen Verfassungsgeschichte einzigartig.
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