NS-Verbrechen : Die ersten Opfer des Rassenwahns
In einer Anhörung sprechen sich Experten dafür aus, die Opfer der sogenannten "Euthanasie"-Morde und der Zwangssterilisationen als NS-Opfer anzuerkennen.
Die Opfer der sogenannten "Euthanasie"-Morde und der Zwangssterilisationen während der nationalsozialistischen Diktatur sollen als NS-Opfer anerkannt und ihr Schicksal verstärkt ins öffentliche Bewusstsein gerückt und in der historischen Aufarbeitung berücksichtigt werden. Dies war das einhellige Votum von Seiten der geladenen Experten und allen Fraktionen in einer öffentlichen Anhörung des Kulturausschusses in der vergangenen Woche. Diese Forderungen sind auch zentraler Bestandteil eines Antrags der Linksfraktion, der die Grundlage der Anhörung bildete.
Der Historiker Wolfgang Benz führte aus, dass behinderte Menschen zu den ersten planmäßig verfolgten Opfern des nationalsozialistischen Rassenwahns gehörten. Den "Euthanasie"-Morden seien schätzungsweise 300.000 Menschen zum Opfer gefallen. Ausgehend vom 1933 erlassenen Gesetz "zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" seien zudem bis zum Ende der NS-Diktatur etwa 400.000 Menschen zwangssterilisiert worden. Unter den Opfern seien nicht nur geistig und körperliche Behinderte gewesen, sondern auch Fürsorgeempfänger, Langzeitarbeitslose, Alkoholiker und sogenannte "Asoziale". Benz regte an, auf den Begriff "Euthanasie" zu verzichten und besser von "Eugenik-Opfern" zu sprechen. Der Begriff "Euthanasie" stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet so viel wie "schöner Tod".
Stopp der Aktenvernichtung
Der Arzt und Psychiater Michael von Cranach führte aus, dass das Thema nach 1945 nicht nur in der Gesellschaft insgesamt, sondern auch in der Psychiatrie lange Zeit verschwiegen worden sei. Noch heute würde das Thema vor allem von "von unten" aufgegriffen, von Nachfahren der Opfern, von "Stolperstein"-Initiativen und von Psychiatrietätigen. Cranach warnte, dass die Aufbewahrungsfrist für Kranken- und Verwaltungsakten aus der NS-Zeit verkürzt worden sei. Es müsse dringend ein Verbot für die Vernichtung dieser Akten durchgesetzt werden, da ansonsten die weitere historische Erforschung kaum mehr möglich sei.
Ute Hoffmann von der Gedenkstätte für die Opfer der NS-"Euthanasie" Bernburg und Jan Erik Schulte von der Gedenkstätte Hadamar verwiesen auf die zentrale Bedeutung von Gedenkstätten. Diese würden zum einen die historischen Geschehnisse sowie die Biografien von Opfern und Tätern erforschen. Zum anderen seien es die wichtigsten Einrichtungen bei der Beratung von Angehörigen und Nachfahren der Opfer sowie bei Bildungsangeboten für Schulen. Allerdings verfügten die Gedenkstätten nicht über die ausreichende finanzielle und personelle Ausstattung, um die Nachfrage zu bedienen. Schulte forderte ein abgestimmtes Vorgehen von Bund und Ländern für eine bessere Unterstützung der Gedenkstätten.
Lebenshilfe: "Diese Verbrechen wirken bis in die Gegenwart"
Die Vorsitzende der Bundesvereinigung Lebenshilfe, Ulla Schmidt, führte aus, dass es keinen einzigen historischen Grund gebe, die Opfer von "Euthanasie" und Zwangssterilisation nicht als Opfer des Nationalsozialismus anzuerkennen. Die Vernichtung von Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen sei von den Nationalsozialisten systematisch betrieben wurden. Diese Verbrechen wirkten bis in die Gegenwart, sagte Schmidt. So bestehe bis heute ein defizitäres Denken bezüglich Menschen mit Behinderungen. Es müsse ein für allemal klargestellt werden, dass es kein "unwertes Leben" gebe, sondern dass behinderte Menschen zur Bandbreite der menschlichen Vielfalt dazugehörten.
Auch die Berichterstatter aller Fraktionen betonten, dass die Anerkennung des Leids der Opfer der "Euthanasie" und von Zwangssterilisationen sowie derer Familien verstärkt in das öffentliche Bewusstsein gerückt werden müsse.