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Friedenspreis des Deutschen Buchhandels : Scharfer Blick nach Osten

Die Historikerin Anne Applebaum erhält den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für ihre Werke über autokratische Herrschaftssysteme.

15.10.2024
True 2024-10-15T18:32:01.7200Z
4 Min

An deutlichen Worten fehlt es der amerikanisch-polnischen Historikerin und Osteuropaexpertin Anne Applebaum nicht, wenn sie ihren kritisch-analytischen Blick auf autokratische Länder rund um den Globus wirft. "Autokratien werden nicht von einem einzigen Bösewicht kontrolliert, sondern von raffinierten Netzwerken mit kleptokratischen Strukturen, einem komplexen Sicherheitsapparat aus Armee, Paramilitärs sowie technischen Experten, die für Überwachung, Propaganda und Desinformation zuständig sind", schreibt Applebaum in ihrem aktuellen Buch "Die Achse der Autokraten". 

Pünktlich zur diesjährigen Frankfurter Buchmesse, auf der sie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird, ist es in deutscher Übersetzung erschienen.

Nicht jedem gefällt, dass Applebaum den Friedenspreis erhält

Bereits im Mai dieses Jahres war Applebaum mit dem Carl-von-Ossietzky-Preis der Stadt Oldenburg geehrt worden. Dass sie nun auch den Friedenspreis erhält, mag nicht jedem gefallen. Zumindest sah das Antimilitaristische Bündnis Oldenburg in der Verleihung des Ossietzky-Preises eine "Verhöhnung des Lebenswerks" des deutschen und von den Nationalsozialisten verfolgten Pazifisten und Friedensnobelpreisträgers. Applebaum, so lautete die Kritik, unterstütze die Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine und spreche sich gegen Friedensverhandlungen mit Russland aus. Dies ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Applebaum hatte sich wiederholt gegen Friedensverhandlungen oder einen Waffenstillstand ausgesprochen, wenn dies territorial oder anderweitig zu Lasten der Ukraine gehe und die Expansionsbestrebungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin damit belohnt würden.

Foto: Anne Applebaum
Anne Applebaum
ist eine amerikanisch-polnische Journalistin und Historikerin. Ihre Arbeiten über die ehemaligen kommunistischen Diktaturen Osteuropas und autokratische Systeme wurden mehrfach ausgezeichnet: mit dem Duff Cooper Prize, dem Pulitzer-Preis, mit der Duke of Westminister’s Medal for Military Literature, dem Lionel Gelber Prize und zuletzt mit dem Carl-von-Ossietzky-Preis der Stadt Oldenburg.
Foto: Anne Applebaum

Angesprochen auf die Kritik, hielt Applebaum jüngst in einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" dagegen, eine pazifistische Einstellung sei zwar prinzipiell zu respektieren, aber es gebe in Deutschland auch Menschen, die ihre prorussische Haltung hinter einem vorgetäuschten Pazifismus verstecken. Es gebe Zeiten, in denen man sich gegen eine aggressive Macht wehren müsse, "wenn man Frieden will", betonte Applebaum.

Jury hebt die “wache Gegenwartsbeobachtung” hervor

Der Stiftungsrat des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels jedenfalls begründete seine Entscheidung unter anderem so: "Historiographische Erkenntnisse mit wacher Gegenwartsbeobachtung zu verbinden, das gelingt Anne Applebaum in ihren Veröffentlichungen über autokratische Staatssysteme und deren international wirkende Netzwerke. In einer Zeit, in der die demokratischen Errungenschaften und Werte zunehmend karikiert und attackiert werden, wird ihr Werk zu einem eminent wichtigen Beitrag für die Bewahrung von Demokratie und Frieden." Und sie habe schon früh vor einer möglichen gewaltvollen Expansionspolitik Putins gewarnt, heißt es in der Begründung.

Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

🕊️ Der Preis wird jährlich im Rahmen der Frankfurter Buchmesse durch den Börsenverein des Deutschen Buchhandels an Persönlichkeiten verliehen, die durch ihre Tätigkeit auf den Gebieten der Literatur, der Wissenschaft oder der Kunst zur Verwirklichung des Friedensgedankens beitragen. Er ist mit 25.000 Euro dotiert.

🕰️ Der Friedenspreis geht auf die Initiative einiger Schriftsteller und Verleger zurück und wurde 1950 erstmals als "Friedenspreis deutscher Verleger" in Hamburg an den deutsch-norwegischen Schriftsteller Max Tau verliehen. Ein Jahr später wurde er zu einem Preis des gesamten Buchhandels.



Die Auseinandersetzung mit Autokratien und Diktaturen - vor allem in den ehemals kommunistischen Staaten Osteuropas - prägen das publizistische Werk Applebaums seit rund 20 Jahren. Mit "Der Gulag" legte sie 2003 eine mit dem Pulitzer-Preis für Sachbücher ausgezeichnete Darstellung des Lagersystems in der Sowjetunion vor, mit "Der eiserne Vorhang" folgte 2012 eine Untersuchung zur Durchsetzung der sowjetischen Herrschaft im östlichen Mitteleuropa und 2017 erschien "Roter Hunger" über den Holodomor, die Hungerkatastrophe in der sowjetischen Ukraine Anfang der 1930er Jahre, den sie als einen in der Stalin-Diktatur bewusst herbeigeführten Völkermord mit rund vier Millionen Toten charakterisierte. In "Die Verlockung des Autoritären" (2020) setzte sich Applebaum schließlich mit der Krise der westlichen, liberalen Demokratie und dem Aufstieg rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen wie der PiS in Polen, der Fidesz in Ungarn, der Brexit Party in Großbritannien und des Trumpismus in den USA auseinander.


Anne Applebaum:
Die Achse der Autokraten.
Siedler,
München 2024;
208 S., 26,00 €


In der nun erschienenen "Achse der Autokraten" arbeitet Applebaum die Gemeinsamkeiten zwischen diktatorischen und autoritären Systemen unabhängig von ihrer ideologischen Ausrichtung heraus. Trotz der erheblichen Unterschiede zwischen dem Kommunismus Chinas, dem Nationalismus Russlands, dem bolivarischen Sozialismus Venezuelas, der Dschutsche-Ideologie Nordkoreas und der radikalen Schia der islamischen Republik Iran eine sie "die skrupellose Entschlossenheit, mit der sie sich selbst bereichern und ihre Macht erhalten". Ihre Bande untereinander und auch "mit ihren Freunden in der demokratischen Welt" seien "keine Ideale, sondern Geschäftsbeziehungen, die der Aufweichung internationaler Sanktionen, dem Austausch von Überwachungstechnologie und der gegenseitigen Bereicherung dienen". 

Memorial Zukunft-Vorsitzende Scherbakowa hält die Laudatio

Neben ihren publizistischen Erfolgen und Lehraufträgen an verschiedenen renommierten Hochschulen in den USA, Großbritannien und Deutschland, blickt die 1964 in Washington geborene Anne Applebaum auch auf eine abwechslungsreiche journalistische Karriere. Diese startete sie 1988 nach ihrem Studium an der Yale University und der London School of Economics als Korrespondentin des "Economist" in Warschau. Zudem schrieb sie in der Folgezeit für eine Reihe amerikanischer, britischer und auch deutscher Zeitungen und Zeitschriften. Polen ist sie auch privat treu geblieben. Seit 1992 ist sie mit Radoslaw Sikorski verheiratet, der seit Dezember 2023 polnischer Außenminister ist. Mit ihm hat Applebaum zwei Söhne und lebt seit 2006 in Polen, seit 2013 besitzt sie auch die polnische Staatsangehörigkeit.

Wenn Anne Applebaum am 20. Oktober den Friedenspreis in der Frankfurter Paulskirche verliehen bekommt - die ARD überträgt den Festakt live ab 10.45 Uhr -, dann wird mit Irina Scherbakowa eine Frau die Laudatio auf die Preisträgerin halten, die sich selbst bestens mit dem Leben und der Politik in einem autokratischen System auskennt. Die russische Germanistin, Historikerin und Menschenrechtlerin Irina Scherbakowa gehörte 1989 in der Sowjetunion zu den Mitbegründern der Organisation Memorial, die sich für die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Stalinismus eingesetzt hat. Die Organisation bekam 2022 den Friedensnobelpreis verliehen, wurde in Russland jedoch im gleichen Jahr verboten. Scherbakowa verließ Russland und lebt heute in Berlin und Israel. Sie ist Vorstandsvorsitzende der Exilorganisation Memorial Zukunft. Ebenso wie Applebaum warnte Scherbakowa früh vor den politischen Entwicklungen in Russland und monierte nach dem Einmarsch in der Ukraine, in Deutschland sei den kritischen Stimmen zu wenig Gehör geschenkt worden: “Wir haben immer wieder gesagt, wohin die Reise in Russland geht.”

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