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Verwundbarer Rechtsstaat : Legale Einfallstore für die Feinde der Freiheit

Maximilian Steinbeis warnt in seinem Buch "Die verwundbare Demokratie" vor einem Missbrauch der freiheitlichen Rechtsordnung durch populistische Parteien.

18.09.2024
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4 Min

Bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland hat die AfD in Thüringen und Brandenburg mehr als ein Drittel der Parlamentssitze erobert, in Sachsen konnte diese Sperrminorität nur knapp verhindert werden. Das stundenlange Gerangel um die Wahl eines Landtagspräsidenten im Erfurter Landtag, ausgelöst durch den Alterspräsidenten von der AfD, konnte erst nach Klärung durch den Thüringer Landesverfassungsgerichtshof beendet werden. Vor solchen Konflikten warnt Maximilian Steinbeis in seinem Buch „Die verwundbare Demokratie”. Der Jurist betreibt seit 2009 den „Verfassungsblog“, auf dem wissenschaftliche Fragen im Grenzbereich von Politik und Recht diskutiert werden.

Gravierende Folgen für Bildung, Kultur, Medien, Polizei und Justiz

Die Thüringer Ereignisse haben gezeigt, dass es keiner rechnerischen Mehrheit bedarf, um in Parlamenten obstruktiv tätig zu sein. Auch aus der Opposition heraus können Feinde der Demokratie die Rechtsordnung für ihre Zwecke missbrauchen. Im sogenannten Thüringen-Projekt des „Verfassungsblogs“, das mit Crowdfunding finanziert wurde, hat Steinbeis mit einem vielköpfigen Forschungsteam mögliche negative Szenarien durchgespielt. Er beschreibt die gravierenden Folgen für Schulen und Universitäten, für Medien und Kunst, für Polizei und Justiz.

Foto: picture alliance / imageBROKER

Wahlaufruf: Plakat einer Kampagne gegen die AfD vor der Landtagswahl in Thüringen.

Je mehr Stimmen eine Partei mobilisieren kann, desto mehr Beteiligungs- und Verfahrensrechte stehen ihr in Gemeinderäten, Landtagen oder auf Bundesebene als juristische „Einfallstore“ zur Verfügung. Das betrifft nicht nur das vergleichsweise unbedeutende, in der Regel der  größten Fraktion zustehende Amt des Parlamentspräsidenten, das in Erfurt zu erbitterten Kontroversen geführt hat. Mit mehr als einem Drittel der Mandate können Änderungen an der Verfassung blockiert werden, auch für die Neuwahl von Verfassungsrichtern ist eine Zweidrittelmehrheit erforderlich.

Ausgehöhltes Gleichgewicht zwischen Legislative und Judikative

Regierungen in Ungarn und Polen, in den USA und Israel haben vorgemacht, wie über die politisch motivierte Besetzung wichtiger Posten an den Gerichten das Gleichgewicht zwischen Legislative und Judikative ausgehöhlt werden kann. Eine Abwahl der Regierenden soll so erschwert oder gar unmöglich gemacht werden. Die Politikwissenschaft bezeichnet dies als „democratic backsliding”, als eine rückwärts gerichtete Entwicklung in ursprünglich liberal verfassten Demokratien.

Sobald eine obstruktiv tätige Partei wesentlichen Einfluss auf Gesetzgebung und Gesetzesvollzug bekommt, an einer Regierung beteiligt wird oder diese gar alleine stellt, potenzieren sich die Möglichkeiten. Das Thüringen-Projekt skizziert die Perspektive einer etwaigen Landesregierung unter Führung der AfD für verschiedene Politikfelder. Im sogenannten „Bildungsszenario“ etwa erlässt das zuständige Ministerium gemäß des Schulgesetzes neue Rechtsverordnungen, welche die Aufgabe des eigentlich verantwortlichen „Instituts für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien” beschränken. Die Regierung kann die Unterrichtsinhalte nunmehr allein gestalten.

Als Folge könnte zum Beispiel die auch queere Lebensformen berücksichtigende Sexualaufklärung ersatzlos aus dem Lehrplan gestrichen werden. Die Grundlage dafür, den bislang gültigen „Bildungsplan bis 18 Jahre“, hat die AfD schon im Wahlkampf als „politisch motiviertes Programm” denunziert, das an den Schulen nichts verloren habe. Eltern, die gegen die neuen Lehrpläne vorgehen wollen, würden vor den Gerichten scheitern. Denn das Vorgehen der Regierung ist legal, rechtlich steht es im Einklang mit den Erziehungszielen, die in Artikel 22 der Landesverfassung festgelegt sind. 


Maximilian Steinbeis:
Die verwundbare Demokratie.
Strategien gegen die populistische Übernahme.
Hanser Verlag,
München 2024;
304 Seiten, 25 Euro


Die von Steinbeis und seinem Team beschriebenen Strategien bewegen sich im Rahmen der geltenden Gesetze. Das Verhältnis autoritärer Politik zum Rechtsstaat sei jedoch instrumentell. Rechte Populisten nutzten ihn vorrangig, um ihn von innen zu untergraben. Sie arbeiteten in den Institutionen und gleichzeitig gegen sie. Nicht zwangsläufig führe das gleich zum Zerfall des demokratischen Systems. Obstruktive Strategien entfalteten ihr vollständiges Potenzial erst in Kombination mit dem Missachten „ungeschriebener Regeln”. Denn auch diese seien als „Leitplanken” notwendig für eine funktionierende Demokratie. Als „constitutional hardball” – ein aus der Sportart Baseball entlehnter Begriff – bezeichnet der US-amerikanische Jurist Mark Tushnet diese politische Taktik, die die Verfassung zerstören will, ohne sie dezidiert brechen zu müssen.

Steinbeis: Gesamte Gesellschaft muss die Verfassung schützen

Auch Maximilian Steinbeis hält die Demokratie auf diesem Wege für verwundbar. Für den Schutz der Verfassung sei die Gesellschaft als Ganzes verantwortlich, sie benötige eine entsprechend „robuste politische Kultur”, betont er. Man könne der „autoritären Strategie zwar nicht entkommen, aber ihr entgegentreten”. Es gehe darum, die angewandten Taktiken zu erkennen, zu benennen und sich auf ihre nächsten Schritte vorzubereiten, um nicht „in jede Falle hineinzutappen”. Protest und Widerstand seien unabdingbar, bevor „aus Möglichkeiten Wirklichkeiten geworden sind und es für Gegenwehr zu spät ist”. Seine Botschaft bringt Steinbeis auf die Kurzformel „Resilienz durch Antizipation”. 

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