Konstituierung des Thüringer Landtages abgebrochen : Streit ums Präsidentenamt in Erfurt eskaliert
Die konstituierende Sitzung endete mit einem Eklat. Nun muss das Verfassungsgericht entscheiden, wie es weitergeht. Die AfD hat aber künftig noch ein Druckmittel.
Sie hatten sich auf diverse Szenarios eingestellt, die Fraktionen, die politischen Beobachter und nicht zuletzt die Juristen in der Thüringer Landtagsverwaltung. Doch das, was sich am Donnerstag im Landtag in Erfurt abspielte, hat vermutlich auch sie überrascht: In der konstituierenden Sitzung zum Auftakt einer neuen Legislaturperiode wählt ein Parlament normalerweise geräuschlos und zügig seinen Präsidenten oder seine Präsidentin, um arbeitsfähig zu werden.
Doch normal ist in Thüringen kaum etwas, seit die AfD bei der Landtagswahl am 1. September stärkste Kraft geworden ist. Zum ersten Mal seit 1945 gewann eine vom Verfassungsschutz als "gesichert rechtsextrem eingestufte" Partei in einem Bundesland eine Landtagswahl. Und so entwickelte sich die Sitzung bereits nach wenigen Minuten zu einem politischen Tauziehen zwischen der AfD und den vier anderen Fraktionen, CDU, BSW, Linke und SPD. Der Konflikt, der sich vor der Sitzung bereits um die Frage des Vorschlagsrechts für das Amt des Landtagspräsidenten abgezeichnet hatte, eskalierte.
AfD reklamiert das Präsidentenamt im Thüringer Landtag für sich
Die AfD pocht darauf, als stärkste Fraktion mit 32 von 88 Abgeordneten den Landtagspräsidenten zu stellen. Weil die anderen Fraktionen aber einen AfD-Abgeordneten nicht an die Spitze des Parlaments wählen wollten, hatten CDU und BSW einen Antrag zur Änderung der Geschäftsordnung vorbereitet, um statt der AfD auch den anderen Fraktionen ein Vorschlagsrecht einzuräumen. Doch zur Entscheidung kam es nicht: Jürgen Treutler (AfD), der als ältester Abgeordneter die Sitzung leitete, weigerte sich schlichtweg darüber abstimmen zu lassen. Mehrfach wurde die Sitzung unterbrochen, immer wieder kam es zu tumultartigen Szenen und hitzigen Wortgefechten, in denen der Alterspräsident sogar Ordnungsrufe erteilte und forderte, Mikrofone abzustellen.
Nach etwas mehr als vier Stunden wurde die Sitzung ganz abgebrochen und auf Samstag vertagt, ohne dass sich der Landtag überhaupt konstituiert hatte - ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik. Der parlamentarische Geschäftsführer der CDU-Landtagsfraktion, Andreas Bühl, kündigte noch in der Sitzung an, den Thüringer Verfassungsgerichtshof anzurufen. Angesichts der chaotischen Sitzung greife seine Fraktion damit "zum letzten Mittel". Der Alterspräsident habe die Rechte der Abgeordneten verletzt und das Demokratie-Prinzip eingeschränkt, indem er eine Abstimmung über den Antrag verhindert habe, erklärte Bühl. Dem Landtag sei ein "schwerer Schaden" zugefügt worden. Auch die anderen Fraktionen zeigten sich entrüstet: Die SPD etwa sprach von einer "Farce", BSW-Fraktionsvorsitzende Katja Wolf von einer "Katastrophe, wie die AfD die Demokratie durch die Manege treibt".
Thüringer Verfassungsgerichtshof muss jetzt entscheiden
Nun haben die Verfassungsrichter im Streit um das Vorschlagsrecht zu entscheiden. Doch die Ereignisse des vergangenen Donnerstags geben bereits einen Vorgeschmack darauf, wie schwierig die Arbeit im Landtag werden kann. Regieren will zwar niemand mit der AfD, aber mit mehr als einem Drittel der Parlamentssitze verfügt sie über ein mächtiges Druckmittel: die Sperrminorität. Die erlaubt es ihr, bei Entscheidungen, die eine Zweidrittelmehrheit erfordern, mitzubestimmen. Das betrifft Verfassungsänderungen sowie die Wahl von Verfassungsrichtern. Besonders brisant: In der kommenden Legislaturperiode müssen alle neun Richterposten im Thüringer Verfassungsgericht neu besetzt werden. Auch die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten auf Lebenszeit könnte die AfD über den Richterwahlausschuss sowie den Staatsanwaltschaftsausschuss blockieren.
Darin sieht die Juristin Anna-Mira Brandau eine Gefahr für den Rechtsstaat. Sie ist Mitarbeiterin im "Thüringen-Projekt" des "Verfassungsblogs" und hat gemeinsam mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern am Fall Thüringens untersucht, wie sich demokratische Institutionen vor Extremisten schützen lassen. Wenn die AfD mit ihrer Sperrminorität die Konstituierung des Richterwahlausschusses verhindere, werde das zum Problem, so Brandau: "Das Gremium muss existieren, damit Richter auf Lebenszeit ernannt werden können." Allein die Tatsache, dass in den nächsten vier Jahren 60 Prozent aller Richterstellen im Land neu besetzt werden müssen, zeige, wie wichtig der Ausschuss sei.
AfD könnte Arbeit parlamentarischer Gremien im Thüringer Landtag blockieren
Schon in der letzten Legislaturperiode nutzte die AfD ihr Erpressungspotenzial: Durch die Weigerung, eigene Kandidaten für den Richterwahlausschuss aufzustellen, blockierte sie dessen Besetzung, und erzwang dadurch die Wahl eines AfD-Landtagsvizepräsidenten.
Die Besetzung von Gremien mit Zweidrittelmehrheit droht aufgrund der Sperrminorität zu einer unüberwindbaren Hürde werden: Bereits der letzten Wahlperiode gelang es dem Thüringer Landtag nicht, die Parlamentarische Kontrollkommission, welche für die Kontrolle des Verfassungsschutzes zuständig ist, zu besetzen. Immer wieder scheiterten Kandidaten von AfD, Linken und Grünen bei der Wahl. Erst wenige Wochen vor der Landtagswahl nahm die Kommission schließlich ihre Arbeit auf - allerdings nur mit vier Mitgliedern aus den Reihen von CDU, FDP und SPD, anstatt wie vorgeschrieben fünf. Nun könnte eine neue Hängepartie drohen.
Eine Situation, die durchaus vermeidbar gewesen wäre: Seit Monaten warnen Verfassungsrechtler davor, dass eine Sperrminorität es autoritär-populistischen Parteien ermöglichen könnte, den Landtag regelrecht "in die Zange" zu nehmen. "Sperrminoritäten können die liberale Demokratie in ein Dilemma führen", sagt Brandau. Mit ihrer Kollegin Julia Talg vom "Thüringen-Projekt" hat sie genau darüber im Verfassungsblog geschrieben.
Eigentlich seien Zweidrittelmehrheiten ein Schutzmechanismus. "Man möchte verhindern, dass Regierungsparteien einfach durchregieren können" - vor allem dann nicht, wenn es um Verfassungsänderungen geht. Doch der Schutzmechanismus habe eine Kehrseite: Die Sperrminorität, die für Blockaden oder als Druckmittel missbraucht werden könne. Brandau plädiert deshalb unter anderem dafür, im Fall des Wahlausschusses über eine Absenkung des Mehrheitserfordernisses nachzudenken.
Demokratische Institutionen besser vor Extremisten schützen
Und es gebe noch mehr (verfassungs-)rechtliche Einfallstore, die zum Schutz der Demokratie geschlossen werden müssten, mahnen Verfassungsrechtler. Wie, dafür hat das Team des Thüringen-Projekts im April dem Landtag Empfehlungen überreicht. Darunter auch Hinweise, wie das Vorschlagsrecht für das Amt des Landtagspräsidenten konkretisiert und Risiken bei der Ministerpräsidentenwahl verringert werden könnten. Doch trotz verschiedener Initiativen aus den Fraktionen blieben die bestehenden Regelungen unangetastet. Der Landtag verzichtete darauf, wie der Bundestag eine Regelung zu treffen, wonach der Alterspräsident nach Dienstjahren anstatt nach Alter zu bestimmen ist. Für Geschäftsordnungs- oder gar Verfassungsänderungen habe es keine Mehrheiten gegeben, so die bisherige Landtagspräsidentin Birgit Pommer.
Das scheint sich nun zu rächen. Aus Sicht des Politikwissenschaftlers André Brodocz von der Universität Erfurt befindet sich die thüringische Politik nun in einer selbstverschuldet verzwickten Situation: "Am Ende tragen alle Parteien eine Mitschuld an der festgefahrenen Lage, da notwendige Reformen immer wieder vertagt wurden."
Regelung zur Ministerpräsidentenwahl birgt Risiken
Das gilt auch für die Regelungen zur Ministerpräsidentenwahl in der Thüringer Verfassung. Im Kern geht es um die Frage, mit welcher Mehrheit ein Kandidat in einem möglichen dritten Wahlgang gewählt ist. Der betreffende Passus lässt reichlich Interpretationsspielraum. Wer "die meisten Stimmen" bekommt, heißt es dazu lediglich in Artikel 70, Absatz 3, sei gewählt. Je nachdem, wie man die Formulierung auslegt, könnte auch ein Kandidat mit mehr Nein- als Ja-Stimmen Ministerpräsident werden. Die kommende Wahl könnte also, wie 2020, als der FDP-Abgeordnete Thomas Kemmerich mutmaßlich mit AfD-Stimmen im dritten Wahlgang zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, zu Überraschungen führen.
Thüringens scheidende Landtagspräsidentin über schwierige Mehrheitsverhältnisse, die neue Stärke der AfD und vertane Chancen, die Demokratie besser zu schützen.
Maximilian Steinbeis warnt in seinem Buch "Die verwundbare Demokratie" vor einem Missbrauch der freiheitlichen Rechtsordnung durch populistische Parteien.
Wann es zur Ministerpräsidentenwahl kommt, ist derzeit unklar: Laut Thüringer Landtagsverwaltung ist es durchaus möglich, die Wahl als Tagesordnungspunkt in der konstituierenden Sitzung aufzusetzen. Für Fristverkürzungen braucht es aber einer Zweidrittelmehrheit. Angesichts dessen, dass es der Landtag am Donnerstag über Stunden nicht schaffte, seine Beschlussfähigkeit festzustellen, ist von einer allzu raschen Wahl des Ministerpräsidenten nicht auszugehen. Gesetzlich festgelegte Fristen, innerhalb derer er gewählt oder die Regierungsbildung abgeschlossen sein muss, gibt es in Thüringen im Unterschied zu anderen Bundesländern ohnehin nicht.
Thüringen droht eine “Patt-Regierung”
Weil keine Fraktion mit der AfD koalieren will und die CDU einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit den Linken hat, scheint die einzig mögliche Regierungskoalition eine aus CDU, BSW und SPD zu sein. Doch das Regieren könnte kompliziert werden. Denn die drei Fraktionen haben nur genau die Hälfte der Sitze im Landtag. "Eine Regierungsbildung mit einer absoluten Mehrheit ist damit praktisch unmöglich", erklärt Brodocz. Er spricht von einer "Patt-Regierung", die weder eine stabile Mehrheits- noch eine Minderheitsregierung darstelle. Die Koalition wäre bei vielen Entscheidungen auf Unterstützung entweder von der AfD oder der Linken angewiesen
Diese Pattsituation könne sich über die gesamte Legislaturperiode hinziehen. Thüringens Politik befindet sich in schwierigem Fahrwasser. Und Neuwahlen, so der Politologe Brodocz, seien vorerst auch kein Ausweg: Denn auch hierfür braucht es in Thüringen eine Zweidrittelmehrheit.