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Die Richterinnen und Richter in den roten Roben des Bundesverfassungsgerichts wachen seit Jahrzehnten über das Grundgesetz. Doch Erfahrungen aus europäischen Nachbarländern zeigen, wie schnell Verfassungsgerichte unter Druck geraten können.

Resilienz des Bundesverfassungsgerichtes : Das "Was wäre, wenn..."-Szenario

Wesentliche Merkmale des Bundesverfassungsgerichts sollen im Grundgesetz verankert werden. Damit soll es gegenüber möglichen Angriffen widerstandsfähiger werden.

11.10.2024
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8 Min

Auf den ersten Blick klingt es trocken und abstrakt: Wesentliche Strukturmerkmale des Bundesverfassungsgerichts und ein Ersatzwahlmechanismus sollen im Grundgesetz verankert werden. Hinter diesen beiden Gesetzentwürfen, die am Donnerstag in erster Lesung im Bundestag beraten wurden, verbirgt sich jedoch ein ernstes Anliegen. Es geht um ein düsteres "Was wäre, wenn..."-Szenario aus Sicht des liberalen Rechtsstaates.

Was wäre, wenn bei einer zukünftigen Bundestagswahl eine rechtspopulistische, teils rechtsextreme Partei die Mehrheit erringt und an die Regierung kommt? Vielleicht, weil sie die absolute Mehrheit gewonnen hat oder weil die vermeintlich unüberwindbaren Brandmauern nicht standhielten.

Vielleicht unterscheidet die Partei zwischen vermeintlich echten Deutschen und "Passdeutschen" und will Letzteren die Staatsbürgerschaft entziehen. Vielleicht plant sie, die Überwachungsbefugnisse von Polizei und Geheimdiensten massiv auszuweiten, um gegen angebliche Terroristen und Extremisten vorzugehen.

Das Bundesverfassungsgericht wacht über die Grenzen des Mehrheitsprinzips

Möglich wäre das. Eine Bundesregierung mit Mehrheit im Bundestag hat - je nach Lage im Bundesrat - einen großen Gestaltungsspielraum. Viele wesentliche Aspekte des Gemeinlebens können mit einfachen Mehrheiten geändert werden. Das ist Demokratie. Aber dieses Mehrheitsprinzip kennt Grenzen, nämlich das Grundgesetz und die dort geregelten Grundrechte und Grundzüge der Republik. 

Über die Einhaltung dieser Verfassung wachen seit 1951 die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe. Und das tun sie mit Vehemenz: So manches Urteil dürfte der Politik nicht gefallen haben. Doch ein Satz fällt nach diesen Urteilen eigentlich immer: "Wir werden das Urteil selbstverständlich respektieren."

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Modernistischer Bau in badischer Umgebung: Das Bundesverfassungsgericht hat seinen Sitz in Karlsruhe.

Doch was, wenn diese Selbstverständlichkeit nicht mehr gegeben ist? Wenn eine Regierung auf für sie kritische Urteile des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr mit zähneknirschender Akzeptanz reagiert, sondern sich eine gefälligere Verfassungsgerichtsbarkeit schafft? 

In diesem Fall könnte diese Regierung samt ihrer Bundestagsmehrheit tatsächlich sehr viel gestalten. Denn im Grundgesetz sind die Regelungen zum Bundesverfassungsgericht knapp gehalten. In Artikel 93 wird festgelegt, für welche Streitigkeiten das Gericht mindestens zuständig ist, in Artikel 94 wird unter anderem bestimmt, dass die Richterinnen und Richter “je zur Hälfte vom Bundestage und vom Bundesrate” gewählt werden müssen. Verfassung und Verfahren des Gerichts sollen wiederum per Bundesgesetz geregelt werden, heißt es weiter.

Die Grundlagen des Bundesverfassungsgerichts lassen sich sehr leicht ändern

Genau hier setzt das Risiko an: Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz könnte im Ernstfall zum Einfallstor für den Umbau der Verfassungsgerichtsbarkeit werden. Neue Senate könnten geschaffen, die Zahl der Richterinnen und Richter deutlich erhöht, die Mehrheit für die Richterwahl gesenkt, Altersgrenzen und Amtszeiten geändert, Aufgaben, Geschäftsordnung und Zuständigkeiten in gewissem Rahmen angepasst werden. Arbeitsfähigkeit und Unabhängigkeit des Gerichts stünden im Feuer.

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Die Diskussion darüber, wie ein solches Szenario verhindert werden kann, läuft in Deutschland seit Jahrzehnten und flammt immer wieder auf - insbesondere mit Blick auf Entwicklungen in anderen Ländern. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, sezierte beispielsweise im November 2022 in der Wochenzeitung "Die Zeit" den beklagenswerten Zustand der Verfassungsgerichtsbarkeiten in Ungarn und Polen. In Ungarn sorgten Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei 2010 dafür, dass die Posten der Richter am Verfassungsgericht erhöht und mit genehmen Richtern besetzt wurden. Danach wurden auch noch die Kompetenzen des Gerichts beschnitten. 

In Polen führte der Streit um das Verfassungsgericht 2015 und 2016 zu einer veritablen Verfassungskrise. Es ging um die Wahl von Richterinnen und Richtern, die Geschäftsordnung des Gerichts, das Quorum für Entscheidungen und Kompetenzen - und die Frage, auf welcher Grundlage das Verfassungsgericht eigentlich entscheiden muss, wenn es um die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen in eigener Sache geht.

Ex-Verfassungsrichter mahnten Reform an

Mit Blick auf seine ehemalige Wirkungsstätte zeigte sich Voßkuhle weniger besorgt. In Deutschland sei die Situation "noch einigermaßen gefestigt"; gegenüber zu vieler Festschreibungen im Grundgesetz zeigte er sich skeptisch, würden diese doch den Gesetzgeber zu sehr einschränken. Einzig die Amtszeitbegrenzung auf zwölf Jahre und die Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat sah er als kodifizierungswürdig an. 

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Anfang 2024 legten dann eine ehemalige Richterin und ein ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht nach. In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" schlugen Gabriele Britz und Michael Eichberger vor, neben der Amtszeit und dem Wiederwahlverbot auch die Wahlmodalitäten sowie die Gesetzeskraft und Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in den Verfassungstext zu schreiben. Auch für einen Mechanismus zur Verhinderung einer Blockade bei der Richterwahl warben die beiden.

Auch die Politik beteiligte sich aktiv an der Diskussion. Vertreter der Ampel-Koalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP signalisierten Offenheit, die "Resilienz" des Bundesverfassungsgerichts zu stärken. Die Union zeigte sich offen für Gespräche über eine mögliche Grundgesetzänderung, ließ aber Skepsis erkennen. Die Gespräche verliefen zunächst holprig, doch dann geräuschlos und erfolgreich. Im Sommer präsentierten Vertreter der Fraktionen und Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) eine Einigung, die nun in Gesetzesform vorliegt.

Das steht in den Entwürfen

Die nun geplanten Änderungen gehen über die Vorschläge der ehemaligen Verfassungsrichterinnen und -richter teilweise hinaus. Die Artikel 93 und 94 sollen neu geordnet werden. In Artikel 93 soll künftig der Status als Verfassungsorgan und die Organisation des Bundesverfassungsgerichts verankert werden. Festgeschrieben werden soll unter anderem, dass das Gericht aus zwei Senaten mit jeweils acht Richterinnen und Richtern besteht. 

Ebenso sollen die Amtszeit von zwölf Jahren, die Altersgrenze der Richterinnen und Richter, das Wiederwahlverbot und die Geschäftsordnungsautonomie des Gerichts in dem Artikel normiert werden. Artikel 94 regelt laut Entwurf künftig die Zuständigkeiten des Gerichts. Zudem soll die Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts explizit im Grundgesetz festgeschrieben werden.

Die Änderungen im Grundgesetz im Überblick

🔗📜 Der Status des Bundesverfassungsgerichts als Verfassungsorgan soll ausdrücklich im Grundgesetz verankert werden. Gleiches gilt für die Geschäftsordnungsautonomie und die Bindungswirkung der Entscheidungen des Gerichts.

⚖️👩‍🎓 Die Zahl der Senate und Richter sowie die Amtszeit, das Wiederwahlverbot und die Altersgrenze sollen künftig Verfassungsrang erhalten.

☝️🏬 Gelingt es Bundestag oder Bundesrat nicht, einen Richter zu wählen, so soll das jeweils andere Wahlgremium die Wahl vornehmen können. Das Nähere regelt künftig das Bundesverfassungsgerichtsgesetz.



Die Wahl der Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts soll laut Entwurf künftig in Artikel 93 geregelt werden. Die Richterinnen und Richter sollen weiterhin je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat gewählt werden. 

Neu aufgenommen werden soll ein Ersatzwahlmechanismus, der greifen soll, wenn die Wahl in einem der Wahlorgane nicht zustande kommt. Dann soll das Wahlrecht vom jeweils anderen Wahlorgan wahrgenommen werden können. Die Details dazu sollen laut Entwurf im Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelt werden, dazu dient der zweite Gesetzentwurf.


„Was in Polen geschah, wäre auch bei uns einfachgesetzlich möglich.“
Till Steffen (Bündnis 90/Die Grünen)

Nicht aufgenommen im Grundgesetz wird das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit für die Richterwahl in Bundestag und Bundesrat. Relevant könnte dies werden, wenn es einer Oppositionsfraktion im Bundestag gelingt, eine sogenannte Sperrminorität zu erreichen, also mehr als ein Drittel der Abgeordneten zu stellen. Ganz real stellen sich diese Fragen gerade in Thüringen und Brandenburg, wo die AfD eine solche Sperrminorität errungen hat.

AfD warnt vor Demontage des Parlamentarismus

Entsprechend empört zeigte sich am Donnerstag Fabian Jacobi von der AfD-Fraktion über die geplanten Änderungen im Grundgesetz. Es sei zwar nicht von vornherein abwegig, über die Aufnahme der bewährten Regelungen zum Bundesverfassungsgericht ins Grundgesetz zu reden, notwendig seien sie aber nicht. 

Der Grund für die Änderungen sei vielmehr die Neufassung der Richterwahl und der vorgesehene Ersatzwahlmechanismus, falls eine Wahl mit Zweidrittelmehrheit scheitert. Jacobi sah darin einen Angriff auf die parlamentarische Demokratie, schließlich beinhalte diese auch, Minderheiten in Entscheidungen miteinzubeziehen. Die antragsstellenden Fraktionen mühten sich nach Kräften, "den Parlamentarismus in Deutschland zu demontieren".

Reformbefürworter wollen "Abwehrkräfte" des Gerichts stärken

Das sahen die so Angesprochenen naturgemäß anders. Im Gegenteil verteidigten die Abgeordneten die geplanten Änderungen fraktionsübergreifend als Verteidigung der Demokratie beziehungsweise als "Stärkung der Abwehrkräfte des Bundesverfassungsgerichts", wie es Dirk Wiese ausdrückte. Der Sozialdemokrat griff seinerseits die AfD scharf an und erinnerte an den Eklat um die konstituierende Sitzung des Thüringer Landtages Ende September. 

Dort hatte sich der von der AfD gestellte Alterspräsident geweigert, über Anträge anderer Fraktionen überhaupt zu debattieren, geschweige denn abstimmen zu lassen. Erst der von der Thüringer CDU-Fraktion angerufene Verfassungsgerichtshof setzte dem Treiben ein Ende. "Antidemokraten greifen das System nicht von außen an, sondern sie gehen als erstes an die Institutionen und versuchen sie zu schwächen", kommentierte Wiese den Vorgang.


„Nach 75 Jahren können wir sagen: Das Experiment ist gelungen.“
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP)

Auch Till Steffen (Bündnis 90/Die Grünen) griff das Erfurter Drama auf. Gerade deswegen seien unabhängige Verfassungsgerichte so wichtig, befand der Abgeordnete. Er verwies zudem auf die Entwicklung in Polen. "Was in Polen geschah, wäre auch bei uns einfachgesetzlich möglich", warnte Steffen. Er warb dafür, im anstehenden parlamentarischen Verfahren auch den Vorschlag des Bundesrates, der eine Zustimmungspflicht für Änderungen am Bundesverfassungsgerichtsgesetz fordert, zu bedenken.

Fraktionen loben sich gegenseitig für die Zusammenarbeit

Abgeordnete von SPD, Grünen, FDP und Union lobten sich zudem gegenseitig für die Zusammenarbeit an diesem Projekt. Es sei "Parlamentarismus in bester Form" gewesen, sagte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP). Er warb ebenfalls eindringlich für die Änderungen, böten sie doch einen effektiven Schutz gegen solche "perfiden Taktiken", die man in Polen und Ungarn gesehen habe. 

Buschmann führte zudem ein historisches Argument für die Kodifizierung im Grundgesetz an. Das Bundesverfassungsgericht sei zunächst ein Experiment gewesen; die Mütter und Väter des Grundgesetzes hätten sicherstellen wollen, dass Regeln auch schnell wieder geändert werden könnten. "Nach 75 Jahren können wir sagen: Das Experiment ist gelungen", so der Verfassungsminister.

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Ähnlich argumentierte auch Andrea Lindholz (CSU) und erinnerte daran, dass sich das Bundesverfassungsgericht seinen Status selbst erarbeitet habe. Inzwischen stelle kein Demokrat das Gericht, seine Aufgaben und seine Stellung in Frage; dennoch sei der "Status, den wir heute kennen und bewahren wollen", keine Selbstverständlichkeit. Mit den vorgeschlagenen "maßvollen, bewährten Ergänzungen" erhalte das Bundesverfassungsgericht nun die gleiche "stabile Position" wie auch andere Verfassungsorgane im Grundgesetz.

Böckenförde-Diktum: Wir alle tragen Verantwortung

Die Christsoziale betonte, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung aktuell unter Druck stehe. Diese Lage gelte es zuvorderst politisch zu lösen. Doch müsse auch die Gefahr bewertet werden, dass "destruktive Kräfte" eine Sperrminorität nutzen könnten, um die Richterwahl zu blockieren und damit auch die Arbeitsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts. Dazu diene der Ersatzwahlmechanismus, auch wenn sich niemand eine solche Situation wünsche.

Lindholz hob - wie auch Buschmann - hervor, dass der Schutz des nunmehr 75 Jahre alten Grundgesetzes und des Bundesverfassungsgerichts nicht nur durch gesetzliche Regelungen geschehe. Es brauche verantwortliche Politiker, Bürgerinnen und Bürger, die staatliche Institutionen als die ihren begriffen, sowie lösungsorientierte Parteien der "Mitte der Gesellschaft", die sich den Herausforderungen der Zeit annehmen. Das "Böckenförde-Diktum" zitierend, wonach der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne, mahnte sie: “Verantwortlich dafür sind wir alle.”