Meeresbiologin Antje Boetius im Interview : "Das Wissen um die Rolle dieser Regionen ist Überlebenswissen"
Die Polarregionen stabilisieren das globale Klima. Die Wissenschaftlerin Antje Boetius hält mehr Forschung und Schutz deshalb für unabdingbar.
Frau Boetius, Sie haben Dutzende Forschungsreisen in die Polarregionen gemacht. Was macht für Sie die Faszination von Arktis und Antarktis aus?
Antje Boetius: Einerseits die spektakulären Landschaften aus Eis, andererseits die unglaubliche Vielfalt des Lebens, auch bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt und monatelanger Dunkelheit. Immer wieder stoßen wir auf unerforschte Lebensgemeinschaften, die sich auf erstaunliche Weise angepasst haben. Diese Entdeckungen haben unsere Sicht auf die Anpassungsfähigkeit des Lebens und die Komplexität der natürlichen Systeme grundlegend verändert. Auch wir Menschen haben dem Eis in unserer Entwicklung viel zu verdanken.
Im Auftrag der Bundesregierung kreuzt seit 1982 ein Forschungseisbrecher, die Polarstern I, durch die Polarmeere. Warum sind diese fernen Regionen für uns und andere Teile der Welt so bedeutsam?
Antje Boetius: Das Wissen um die Rolle und Veränderung dieser Regionen ist Überlebenswissen. Denn sie sind ein wichtiger Faktor für die Stabilität von Klima und Meeresspiegel auf der ganzen Welt. Die Rückstrahlung von Sonnenlicht durch das Eis verhindert eine Überhitzung von Ozean und Atmosphäre. Das Ozeanwasser wird dort kalt und schwer, sein Absinken ist Teil des globalen Förderbandes und bringt Sauerstoff in die Tiefsee. Gerade der Südozean nimmt nicht nur sehr viel Wärme auf, sondern auch viel CO2. Inzwischen erwärmt sich die Arktis viermal schneller als der Rest des Globus. Die Bewohner der hohen Arktis berichten von immer chaotischeren Wetterphänomenen und einem Schwund der lokalen Lebensvielfalt.

Wie sichtbar sind diese Veränderungen vor Ort?
Antje Boetius: Seit 1993 forsche ich mit der Polarstern in der Arktis, damals betrug die Dicke des Meereises drei bis vier Meter. Seit 2005 ist sie auf ein bis zwei Meter geschrumpft. 2023 haben wir auf der Unterseite des Eises kaum noch Eisalgen gefunden. Besonders Melosira arctica, die meterlange Fäden bilden kann und ein wichtiger Nährstofflieferant für das gesamte Ökosystem ist, fehlte. Wir haben nun schon das erste Jahr mit 1,5 Grad globaler Erwärmung erreicht und die bisher geringste Meereisbedeckung im Winter seit Beginn der Satellitenaufzeichnung. Es könnte also sein, dass wir uns immer schneller auf den ersten überregionalen Zusammenbruch der Meereisbedeckung in der Arktis zu bewegen, der für einen Zeitraum zwischen 2030 bis 2050 vorhergesagt wird. Insgesamt zeigen uns die Forschungsergebnisse, dass wir die Treibhausgasemissionen viel zu langsam verringern - mit schlimmen Folgen für das Klima.
Nun gehört fast die Hälfte der Arktis zu Russland, sieben andere Staaten teilen sich den Rest - und alle hoffen mit der Eisschmelze auf neue Handelsrouten und den Zugang zu Rohstoffen. Welche Auswirkungen hat das auf die Forschung?
Antje Boetius: In der Arktis gab es bis zum Angriff Russlands auf die Ukraine eine recht gute Zusammenarbeit in der Forschung. Während unserer ganzjährigen MOSAIC Drift-Expedition vor fünf Jahren arbeiteten auf dem Schiff Menschen unter anderem aus China, Russland, USA und ganz Europa produktiv zusammen. Das wäre aktuell nicht denkbar. Wissenschaft ist Teil der Gesellschaft und braucht deren Unterstützung. Sie beruht auf einem verlässlichen und vertrauensvollen Umgang, daher wirken natürlich auch Streit oder gar Krieg zwischen Ländern auf deren Forschende. Die Verschlechterung der Zusammenarbeit mit und zwischen den Ländern des Arktischen Rates ist deshalb ein Problem.
„Es kommt inzwischen zu Hitzewellen in der Arktis und in der Folge zu Bränden in der arktischen Tundra.“
Die Situation hat die letzte Bundesregierung veranlasst, ihre Leitlinien zur Arktispolitik zu überarbeiten. Da geht es nun viel um Sicherheits- und Geopolitik - zum Schaden des Umwelt- und Klimaschutzes?
Antje Boetius: Bestimmt nicht, denn alle Sektoren sind vom schnellen Wandel betroffen. Das Schmelzen des Meereises und des Permafrostes birgt erhebliche Risiken. So werden auf dem ehemals stabil gefrorenen Boden immer mehr Straßen, Häuser, Industrieanlagen gebaut. Doch wenn das Eis schmilzt, kommt es im Untergrund zu Rissen, Brüchen und Löchern, was zu Umweltkatastrophen führen kann, wie dem gigantischen Ölunfall in Sibirien durch Brechen eines Tanks. Auch kommt es inzwischen zu Hitzewellen in der Arktis und in der Folge zu Bränden in der arktischen Tundra - sie lassen den Permafrostboden weiter tauen und können zur Ausbreitung von neuen Krankheitserregern führen. Schließlich bedroht ein steigender Meeresspiegel Milliarden von Menschen und ihre Infrastruktur. Klimaschutz, Umwelt und Sicherheit sind demnach eng verschränkt, und wir sind auf eine starke internationale Zusammenarbeit angewiesen, um die Probleme zu lösen.
Was muss geschehen, um Arktis und Antarktis besser zu schützen?
Antje Boetius: Der wichtigste Schritt ist, den Ausbau regenerativer Energien global schneller voranzutreiben, um die Abhängigkeit von Kohle, Öl - und langfristig auch Gas - zu verringern und weniger Treibhausgas zu emittieren. Wir müssen darüber hinaus dringend Lösungen finden gegen die zunehmende Verschmutzung der Ozeane durch langlebige Chemikalien und Kunststoffe. Außerdem brauchen die polaren Lebensgemeinschaften, die zunehmend unter Druck stehen, Ruheräume. Dann kann der Ozean auch Teil der Lösung für eine nachhaltige Zukunft sein.
Sind diese Notwendigkeiten auf politischer Ebene angekommen?
Antje Boetius: Zumindest die Weichen sind durch das Klimaschutzgesetz und den Europäischen Rahmen, den sogenannten Green Deal, gestellt. Nun geht es darum, beschlossene Maßnahmen, wie Investitionen in Infrastruktur, Energietransformation und Emissionshandel, zusammen umzusetzen. Für Wirtschaft und Menschen sollte gelten: Ambitionierter Klimaschutz wird belohnt und nicht bestraft. Nach wie vor habe ich Hoffnung, dass Europa da gemeinsam vorankommen kann und andere Partner mitreißen könnte. Da könnte auch die neue Bundesregierung punkten.
Der Haushaltsausschuss des Bundestages hat Ende 2024 immerhin schon den Weg freigemacht für den Bau eines neuen, noch moderneren Forschungsschiffes, den Eisbrecher Polarstern II. Er soll in Wismar gebaut werden und 2030 fertig sein. Was ist das Besondere daran?
Antje Boetius: Das Schiff wird mit hochentwickelten Geräten ausgestattet, darunter Unterwasserrobotern, unbemannten Drohnen und neuen Bohrtechnologien. Ein Highlight ist der "Moonpool", eine geschützte Öffnung im Rumpf, die den Einsatz komplexer Tauchroboter unter dem Eis ermöglicht. Die Polarstern II wird zudem mit einem umweltfreundlichen Antriebssystem ausgestattet werden, das die Nutzung von grünem Methanol ermöglicht. Es werden moderne Abgasreinigungssysteme installiert, um schädliche Emissionen zu minimieren, und das Schiff wird leiser. Wir freuen uns sehr, dass die Bauphase nun endlich beginnen kann. Bis dahin haben wir mit dem "alten" Schiff noch viel vor: Wir planen mehrere große internationale Vorhaben sowohl mit Kanada in der Arktis wie auch mit vielen Ländern gemeinsam in der Antarktis.
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