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Streit um die Verkehrswende : Wem gehört die Straße?

Die Umgestaltung von Straßen und Wohnvierteln für mehr Fuß- und Radverkehr führt oft zu Protesten. Doch es geht auch anders.

17.07.2024
True 2024-07-17T15:30:12.7200Z
7 Min

In Brüssel gilt in der Innenstadt fast überall Tempo 30, Gent hat den Durchgangsverkehr aus dem Zentrum verbannt, und in Paris werden Fahrspuren zu breiten Radwegen umgebaut: Weltweit organisieren Städte den Verkehr in ihren Zentren neu und verteilen Flächen anders, auch in Deutschland. Doch sobald hier Kommunen den Platz zum Parken oder Fahren von Autos etwas einschränken, protestieren Anwohner und Gewerbetreibende lautstark oder klagen vor Gericht.

Deutsche tun sich beim Umbau schwerer als andere

Für den Mobilitätsforscher Andreas Knie, Professor für Sozialwissenschaften an der TU Berlin und dem Wissenschaftszentrum Berlin, sind diese Proteste kein rein deutsches Phänomen. "Auch im Ausland wird gemurrt, wenn an den Privilegien für den Privatwagen gekratzt wird", sagt er. Allerdings tue sich Deutschland im europäischen Vergleich beim Umbau der Straßen deutlich schwerer als seine Nachbarn. Das liege an der Bundesverkehrspolitik, aber auch an der Struktur der Städte.

Foto: picture alliance/dpa/Jörg Carstensen

Kopenhagen hat sich 2009 das Ziel gesetzt, die beste Fahrradstadt der Welt zu werden. Seither wurde viel Geld in das Radwegenetz investiert - und zum Beispiel die Fahrradbrücke "Cykelslangen" gebaut.

Der Druck, den Verkehr neu zu organisieren, sei in den kompakten belgischen oder französischen Städten deutlich höher als in vielen deutschen Städten, sagt Knie. In Hannover, Chemnitz oder Halle rolle der Autoverkehr auf breiten sechsspurigen Straßen weiterhin bequem durch das Zentrum. Anders in den historischen Altstädten von Antwerpen, London oder Paris: Dort schieben sich Autos dicht gedrängt auf schmalen Fahrspuren durch die eng bebauten Quartiere. "Die Enge, der Lärm und die Abgase belasten die Menschen", sagt er. Die Politik stehe hier unter Zugzwang, die Verkehrsprobleme zu lösen.

40 Prozent weniger Autoverkehr in Gent

Auch im belgischen Gent sorgte der Autoverkehr Anfang der 2010er Jahre für Stau und schlechte Luft. 40 Prozent des Autoverkehrs in den Wohngebieten rund um die Altstadt war Durchgangsverkehr. Als Filip Watteeuw, stellvertretender Bürgermeister und Verkehrsminister, ankündigte, die Stadtteile rund um die Altstadt für den motorisierten Durchgangsverkehr zu sperren, war der Protest groß. Watteeuw bekam Morddrohungen und brauchte Polizeischutz.

Dennoch hielt die Stadtregierung an ihrem Mobilitätsplan fest. Der sah vor, dass Anwohner zwar weiterhin mit ihren Wagen in jedes Quartier hineinfahren können, aber von dort nicht weiter in die angrenzenden Viertel. Wer auf das Auto angewiesen war, sollte zukünftig einen Umweg über die Ringstraße nehmen, die alle Quartiere rund die Altstadt miteinander verbindet.

Erfolgsrezept: Bevölkerung beim Planen beteiligen

Während die Verwaltung den Umbau vorbereitete, diskutierte Watteeuw die Pläne mit Einzelhändlern, Wirtschaftsvertretern und Anwohnern. 2017 wurde der "Circulatieplan" umgesetzt und in den Folgejahren stetig verbessert. Der private Autoverkehr sank zwischen 2012 bis 2019 im Zentrum von 55 auf 27 Prozent, stadtweit auf 39 Prozent.


„Mit Begriffen wie autofreie oder autoarme Städte kreieren wir völlig falsche Bilder.“
Torsten Perner, Verkehrsplaner und -stratege bei Ramboll

Dieses konsequente und strategische Vorgehen vermisst Torsten Perner in deutschen Kommunen. Der Verkehrsplaner und -stratege der globalen Ingenieur-, Architektur- und Managementberatung Ramboll berät Städte und Regierungen europaweit dabei, ihre Mobilität intelligent zu organisieren, eine Zeit lang auch in Dänemark.

"Dort gibt die Politik bei der Verkehrsplanung das Ziel vor und beteiligt die Bevölkerung an der Gestaltung", sagt er. Dabei gehe es stets um das "Wie" und nie um das "Ob". Wenn in Nachhinein etwas nicht funktioniere, werde in Absprache mit der Bevölkerung nachgebessert. In Deutschland sei das anders. "Hier wird bei Kritik schnell das gesamte Vorhaben hinterfragt und sogar beendet", sagt er.

Berliner Friedrichstraße nach Sperrung wieder offen

So wie etwa der Verkehrsversuch in der Berliner Friedrichstraße: Rund drei Jahre lang war dort ein 500 Meter langer Abschnitt für den Autoverkehr gesperrt. Ebenso lange protestierten eine Hand voll Politiker und Einzelhändler lautstark dagegen. Nach dem Regierungswechsel im Frühjahr 2023 beendete der neue Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) den Verkehrsversuch, machte sämtliche Änderungen rückgängig und setzte damit ein Wahlkampfversprechen um. "Berlin hat hier die Chance vertan, eine Fehlerkultur zu entwickeln, die ein Nachbessern ermöglicht", sagt Perner.

Während sich in Berlin der Umbau der Straße verzögert, setzen Städte wie Oslo, Paris oder Kopenhagen ihre Zukunftsvisionen bereits um. Dort haben sie allerdings auch Rückendeckung an der Wahlurne oder über Bürgerbeteiligungsverfahren. Oslo etwa will klimaneutral werden, Kopenhagen zur besten Fahrradstadt der Welt und Paris zur 15-Minuten-Stadt, in der die Bewohner alle alltäglichen Dinge zu Fuß oder mit dem Fahrrad in einer Viertelstunde erreichen können.

Aufenthaltsqualität als Mehrwert begreifen

"Die Zustimmung in der Bevölkerung für den Wandel ist groß, die Menschen sind weiter, als die Politiker denken", sagt Dagmar Köhler, die als Strategin mit dem Planungsbüro Mobycon, Kommunen in Europa bei ihrer Stadt- und Verkehrsplanung berät. Ausschlaggebend für den Erfolg sind aus ihrer Sicht ambitionierte Ziele der Regierungen. "Diese versprechen den Menschen einen echten Mehrwert wie mehr Aufenthaltsqualität - und werden auch zeitnah umgesetzt", sagt sie.

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Ehrgeizige Ziele motivierten außerdem Ingenieure, innovativ zu denken und zu planen. Ein Beispiel dafür ist die bekannte geschwungene Kopenhagener Radbrücke "Cykelslangen". Mit ihr haben die Dänen im Sommer 2014 eine Lücke im Radwegenetz elegant geschlossen. "In Dänemark oder den Niederlanden denken die Planer den Rad-, Fuß-, Bus- und Bahnverkehr stets in miteinander verzahnten Netzen", sagt Köhler. Das sei entscheidend, meint die Strategin, damit die Menschen bequem ihr Ziel erreichten.

Straßenverkehrsrechts-Reform: Mehr Klimaschutz bei Verkehrsplanung möglich

In Deutschland existieren solche zusammenhängenden Wegenetze in erster Linie für den Autoverkehr. Versuche, sie auch für den Rad- oder Busverkehr anzulegen, scheiterten oft an der Rechtslage. "Das Straßenverkehrsgesetz und die Straßenverkehrsordnung blockierten bis vor kurzem alles, was die Flüssigkeit des Autoverkehrs einschränkte", sagt Mobilitätsforscher Knie. Deshalb sei es für Kritiker leicht, gegen Verkehrsversuche zu klagen.

Das hat sich nun geändert. Nachdem Bundestag und Bundesrat im Juni eine Reform des Straßenverkehrsrechts beschlossen haben, können Ingenieure nun auch die Gesundheit, den Klimaschutz oder städtebauliche Belange bei der Verkehrsplanung berücksichtigen. "Es ist ein erster Schritt. Ob die Novelle ausreicht, wird die Praxis zeigen", sagt Knie.

Leere Parkhäuser und volle Straßen

Denn bereits heute nutzen die Kommunen aus seiner Sicht nicht alle möglichen Stellschrauben, um dem Rad- oder Fußverkehr mehr Platz zu verschaffen. "Ein zentraler Schlüssel ist das Parken", sagt er. In Deutschland dürften Privatwagen überall dort kostenlos abgestellt werden, wo es nicht ausdrücklich verboten ist. Das führe dazu, dass in Zentren die Straßen zugeparkt sind, während Parkhäuser zur Hälfte leerstehen. "Das Umparken der Autos von der Straße ins Parkhaus kann die Straßen freiräumen und Chancengleichheit bei der Verkehrsmittelwahl herstellen", sagt Knie. Solange der Wagen vor der Haustür parke, sei es für Autobesitzer bequemer, ihn zu nutzen, anstatt 300 Meter zur nächsten Bushaltestelle zu laufen.


„Der Blick nach Gent, Paris oder Kopenhagen zeigt, dass die Umverteilung der Flächen funktioniert.“
Julia Jarass, Institut für Verkehrsforschung im DLR

Deshalb erheben viele europäische Städte mittlerweile hohe Parkgebühren für das Straßenparken. In Rotterdam kostet es zum Beispiel mit rund sechs Euro pro Stunde doppelt so viel wie im Parkhaus. Außerdem werden dort und in Amsterdam Straßenparkplätze konsequent abgebaut.

Weniger Parkplätze, mehr Raum für Fußgänger 

Die frei gewordenen Flächen werden begrünt und für den Rad- oder Fußverkehr umgestaltet. "Davon profitieren viel mehr Menschen als zuvor von den Stellplätzen", sagt der Mobilitätsexperte Perner. Diesen Aspekt vermisst er in der Diskussion. Statt den Mehrwert aufzuzeigen, werde hierzulande stets der Verzicht betont. "Mit Begriffen wie autofreie oder autoarme Städte kreieren wir völlig falsche Bilder", meint er. Bis auf wenige Städte wie Venedig sei keine Stadt autofrei. "Der Autoverkehr ist und wird auch weiterhin überall in der Stadt unterwegs sein", sagt er. Nur Teile von Straßen oder Quartieren würden umgestaltet. Das müsse deutlich werden.

Aber manche Menschen tun sich selbst mit kleinen Einschränkungen im Alltag zunächst schwer, wie die Forschung von Julia Jarass zeigt. Die Wissenschaftlerin vom Institut für Verkehrsforschung beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Berlin hat drei Reallabore in Berlin begleitet, darunter die Umgestaltung einer Kreuzung zu einem Stadtplatz begleitet. Die Anwohner bezog ihr Team bereits im Vorfeld ein, gemeinsam begrünten sie den Platz und statteten ihn mit Sitzmöbeln aus. "Der neue Raum wurde rege genutzt; und es kamen Nachbarn in Kontakt, die nie zuvor miteinander geredet hatten", sagt Jarass. Vielen hat das gefallen.

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Ihre Untersuchungen zeigen aber auch: Wer im Alltag hauptsächlich mit dem Auto unterwegs ist, lehnt die Umgestaltung seines Umfelds eher ab: "Autofahrer nehmen das neue Umfeld mit mehr Grün, weniger Lärm und neuen Treffpunkten bei ihren Fahrten durch die Stadt nicht wahr", erklärt die Wissenschaftlerin. Sie erlebten in erster Linie die Nachteile des Umbaus - etwa dass sie Umwege fahren müssten oder am Ziel keinen Parkplatz fänden.

Städte brauchen Mut, Geduld und Durchhaltevermögen

Kritisiert wurden Veränderungen des Straßenraums schon immer. In den 1970er Jahren sorgten Fußgängerzonen zunächst für Bedenken. "Heute will sie keiner mehr missen", so Jarass. Entscheidend für eine erfolgreiche Umgestaltung von Straßen und Wohnvierteln seien eindeutige Ziele und Beteiligungsverfahren, die auch die Kritiker einbezögen. "Der Blick nach Gent, Paris oder Kopenhagen zeigt, dass die Umverteilung der Flächen funktioniert", sagt sie. Die Kommunen bräuchten allerdings neben dem nötigen Geld und Personal auch Mut, Geduld und Durchhaltevermögen.

Die freie Journalistin schreibt zu nachhaltiger Mobilität in Städten.