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Die Mär von der Stunde Null : Das Erbe vom 8. Mai: Zwischen Befreiung und Belastung

Kein Neubeginn: Nach dem 8. Mai 1945 folgte eine Zeit geprägt von Kontinuitäten, Schuld und dem schwierigen Aufarbeiten der NS-Vergangenheit.

27.04.2015
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"Niemand schoss mehr auf mich. Ich kriegte plötzlich ein richtiges, schönes Lebensgefühl.“ So schildert der bekannteste deutsche Kabarettist, Dieter Hildebrandt, den Moment seiner Gefangennahme durch einen amerikanischen GI 1945 bei Tangermünde an der Elbe. Er war gerade, auf der Flucht vor russischen Soldaten, durch den Hochwasser treibenden Fluss geschwommen und heil ans Ufer gelangt. Der 17-jährige Rekrut wird sogar von seinen Empfindungen überwältigt: „Dieser 8. Mai, um 14 Uhr nachmittags, das war für mich der erste fröhliche Tag nach Jahren. Ich war praktisch Zivilist. Der Krieg war zu Ende, ich war glücklich. Kein Zusammenbruch.“

Die Erlebnisse Hildebrandts sind Teil eines Buches, in dem 23 Künstler, Literaten, Intellektuelle ihr persönliches Kriegsende 1945 erzählen, unter dem Titel „Erinnerungen an die Stunde Null“. Der schmale Band ist nicht zufällig in diesen Wochen auf den Markt gekommen, sondern zielt mit seinen Schilderungen auf den 70. Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation Hitler-Deutschlands am 8. Mai 1945, ein Datum, das jetzt unmittelbar bevorsteht.

Aber da taucht es wieder auf, jenes ominöse Wort von der „Stunde Null“, das viele Deutsche lange mit diesem historischen Stichtag verbanden - und das sicherlich noch in den Köpfen mancher Zeitgenossen steckt. Gewiss, Deutschland war damals an einem Tiefpunkt angekommen: zerbombte Städte, zerschmetterte Industrie, zerstörte Infrastruktur, dazu die hungernde Bevölkerung, endlose Flüchtlingsströme, vernichtete Existenzen, eine traumatisierte Gesellschaft. Ein einziges Bild der Verwüstung und der Hoffnungslosigkeit. Eben die „deutsche Katastrophe“, wie der greise Historiker Friedrich Meinecke diese Wegmarke auf einen Begriff zu bringen versuchte.

Ziel erreicht

Das NS-System war geschlagen und zerbrochen, ohne Zweifel. Aber dies war das ausdrückliche Kriegsziel der alliierten Kriegführung gewesen. „Den Nationalsozialismus und den deutschen Militarismus vernichten, die Herrschaft der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter Partei beseitigen, die NSDAP auflösen sowie die grausamen, harten und ungerechten Rechtssätze und Einrichtungen, die von der NSDAP geschaffen worden sind, aufheben“: Dies bezeichnete General Dwight D. Eisenhower, Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte, in seiner „Proklamation Nr. 1“ als Aufgabe der Militärregierung.

Foto: picture alliance / Schoening

Am 8. Mai 1945 war der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende. In Berlin gibt es für dieses Datum einen historischen Ort: das Museum Karlshorst mit seinen authentischen Räumen.

Deutschland verlor am 8. Mai 1945 Souveränität und Selbstbestimmung, die legislative und exekutive Gewalt ging an die Besatzungsmächte über. Das Territorium wurde verkleinert, das Land nicht völlig annektiert. Die Sieger teilten es in vier Zonen auf. Die Nation wurde nicht total vernichtet, sondern unter Aufsicht gestellt. Aber damit wurde ihr ein Stück Identität belassen, wie sehr sie auch durch die Nazi-Verbrechen belastet war. Gewiss, 1945 standen die Deutschen mit Unsicherheiten und Ungewissheiten vor der Zukunft. Aber nichts rechtfertigt, dafür eine Stunde Null anzusetzen. Es gibt kein „Ende der Geschichte“, wie es der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Staatssozialismus in Osteuropa glaubte diagnostizieren zu können - zum Zeitpunkt der 1990er Jahre nicht, wie längst feststeht; und für das Deutschland des Jahres 1945 erst recht nicht. „Der 8. Mai 1945 war der entscheidende Wendepunkt, aber nicht der Endpunkt der deutschen Geschichte“, hat der Historiker Heinrich August Winkler formuliert. Denn es bestanden vielfältige und nachhaltige Kontinuitätslinien historischer, geistiger und struktureller Art. Sie waren keineswegs nur mit positiven Signaturen versehen, die das Leben und Überleben in der unübersichtlichen Phase der Nachkriegsjahre erleichtert haben. Aber es spricht für die Komplexität mancher Problematiken, dass sie Gesellschaft und Politik zuweilen wieder einholen. So im Argwohn von EU-Staaten über die wirtschaftliche Stärke Deutschlands, zuweilen mit dem Produzieren hässlicher Bilder über den neuen germanischen Hegemon. Oder in den jetzigen Milliarden-Reparationsforderungen Griechenlands, die - jenseits der juristischen Komplikationen für die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin des Dritten Reiches - eine zutiefst moralische Dimension besitzen. Und nicht zuletzt die Flüchtlingstragödien im Mittelmeer, dieses jahrelange Massensterben ohne Gesten von Menschenwürde durch die Staatengemeinschaft: Werden da nicht schreckliche Bilder und Assoziationen wachgerüttelt?

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Den Deutschen waren 1945 abermals die Trümmer einer verfehlten Geschichte auf die Füße gefallen, wie bereits 1918, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß. Aber wie den Schutt in den demolierten Städten hatten sie auch diese traurige Hinterlassenschaft zu bewältigen. Angesichts der Monstrosität der Naziverbrechen durch Rassenwahn und Eroberungskriege stellte dieses braune Erbe in den Kontinuitätslinien die wohl heikelste psychologische und gesellschaftliche Hypothek dar. Wie umgehen mit den 8,5 Millionen NSDAP-Mitgliedern, den Wehrmachtsoffizieren, SS-Führern, Gestapo-Leuten, Ministerialen und Beamten, Bonzen und Eliten, die den Führer gestützt hatten? Wie verfahren mit den Verstrickungen einfacher „Volksgenossen“ in die „Gefälligkeitsdiktatur“ der Nazis, wie Götz Aly „Hitlers Volksstaat“ charakterisiert hat, dessen materielle Vorteile allerdings aus Raub und Rassenkrieg herrührten? Solche Brocken lassen sich nicht mit einem Datenschnitt aus dem historischen Fokus und dem gesellschaftlichen Bewusstsein schaffen.

Es bleibt, bis heute, als Kennzeichen der Nachkriegsepoche in Deutschland das kollektive Beschweigen der Nazizeit und deren Freveltaten. Im Westen - zumindest teilweise - als augenzwinkernd-wissende Contenance über die Vergangenheit, mit der häufig Lebensläufe und Karrieren ungestört fortgesetzt wurden; im Osten sehr bald als Ausgangspunkt forcierter antifaschistischer Mythenbildung, um sich politisch vor Mitverantwortung für NS-Unrecht und damit um eine offene Schuldanerkennung zu drücken. Aufrechnen, Externalisieren, Ausblenden, Schweigen, Umfälschen: So hat die Wissenschaftlerin Aleida Assmann die „Strategien der Verdrängung“ benannt. Hitler war’s, auf diesen kurzen Nenner brachte der Publizist Hannes Heer die gesellschaftliche Stimmungslage. Als die jüdische Publizistin Hannah Arendt jedenfalls Ende der 1940er Jahre durch Deutschland reiste, stellte sie fest, dass es unmöglich sei, auch nur einen einzigen Nazi anzutreffen. Stattdessen setzte bald in der Bevölkerung eine Identifizierung von den Tätern, von Schuldigen zu Opfern, zu Unschuldigen ein, es nisteten sich Leidensmentalitäten und Entbehrungsnarrative ein - Kategorien, die über Jahrzehnte stets abrufbar blieben, in Familienerzählungen ohnehin, aber auch in Literatur und Filmen über Bombenkrieg sowie Flucht und Vertreibung, ebenso an Gedenkdaten wie der Bombardierung und Zerstörung Dresdens am 13./14. Februar 1945.

Normative Abgrenzung 

Zwar begannen die Besatzungsmächte 1945 mit einer umfangreichen Entnazifizierung, die Sowjets in ihrer Zone recht radikal, die Amerikaner zunächst auch rigoros: mit Prozessen, Verurteilungen, Internierungen, Berufsverboten, Entlassungen - Akte normativer Abgrenzung zum Nationalsozialismus und seinen Vollstreckern. Aber als sich nach 1946 der Kalte Krieg immer deutlicher abzeichnete, erlahmte im Westen recht bald der Elan bei diesen bürokratischen Verfahren, die ohnehin bei der deutschen Bevölkerung auf Abneigung, wenn nicht gar auf Ablehnung stießen. Zuletzt geriet die Entnazifizierung hier gar zu Farce, als Hunderttausende Belastete in den Westzonen als „Mitläufer“ eingestuft wurden; schließlich sogar zum Skandal, als in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Kanzler Konrad Adenauer mit Amnestiegesetzen und Rehabilitationsmaßnahmen den alten Nazi-Gängern wieder die Türen zur öffentlichen Verwaltung und Justiz bequem öffnete, unter der Parole „Vergangenes vergangen sein zu lassen“. Viele prominente Namen stehen für die solcherart begünstigten Fehlwege: Globke, Oberländer, Kiesinger, Filbinger, Fränkel, Maunz, Forsthoff. Auch Speers „Kindergarten“, wie die jugendliche Entourage des NS-Rüstungsministers etwas spöttisch genannt wurde, lief nach 1945 zu großer Form auf. Die Publizistin Nina Grunenberg hat die Wege der „braunen Mannschaft“ in der NS-Wirtschaft und danach aufgespürt: Abs bei der Deutschen Bank, Flick, Sohl und Schlieker in der Stahlindustrie, Neckermann im Versandhandel, Merkle bei Bosch, Zangen bei Mannesmann, Wurster bei BASF. Grunenberg bezeugt diesen „Wundertätern“ Respekt vor deren wirtschaftlichen Aufbauleistung, äußert aber „Erschrecken über ihre völlige moralische Unempfindlichkeit“. In vielen Monographien sind oder werden diese Kontinuitätslinien inzwischen aufgearbeitet, auch über Behörden wie das Auswärtige Amt.

Wunder zur Verarbeitung 

Der Historiker Norbert Frei, der die „Vergangenheitspolitik“ in ihren vielfachen Facetten während der 1950er und 1960er Jahre erforscht hat, kommt zu der Überlegung, ob das westdeutsche „Wirtschaftswunder“ nicht „doch so etwas wie eine kollektive Ratio der Verarbeitung“ der Vergangenheit gewesen sei. So hätten sich „mit stupender Geschwindigkeit“ die äußerlichen Spuren des Zweiten Weltkriegs verwischt. Eine „manische Abwehr durch Ungeschehenmachen im Wirtschaftswunder“ attestierten auch die Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich den Deutschen, als sie 1967 mit der These von der „Unfähigkeit zu trauern“ Furore machten. Solche Befunde machte sich die 68er-Bewegung für ihre Proteste zu eigen, mit denen sie nun in signifikanter, wenngleich oft grober Weise die Eltern-Generation nach ihren Verstrickungen in das NS-System und nach der Verantwortung für ihre Schuld fragte. Diese Revolte markiert, neben vielen anderen Nachwirkungen, auch eine Wendung in der Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.

Dennoch brauchte es vier Jahrzehnte, bis der 8. Mai 1945 eine neue öffentliche historische Konnotation erhielt, eben mit der Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker 1985: „ein Tag der Befreiung“, nämlich „befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“. Es ist bedauerlich, dass diese große Rede immer wieder auf diese eine Sentenz reduziert wird, wie jüngst beim Tod des früheren Staatsoberhaupts vielfach geschehen. Weizsäcker verneint ausdrücklich eine „Stunde Null“, betont dafür die Kontinuitätslinien: „Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“ Nicht im Ende des Krieges sei die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit zu sehen, sondern in seinem Anfang und im Beginn der Gewaltherrschaft, die zum Krieg geführt habe. Immer wieder rekurriert der Bundespräsident auf die NS-Vergangenheit, auf Hitlers treibende Kraft bei Krieg und Holocaust, auf die Verfolgungen und Opfer, auf die Zerstörungen und Leiden in Europa, die stets mit dem deutschen Namen verbunden blieben. Das Durchleben dieser gemeinsamen Geschichte ist für Weizsäcker auch ein Bestandteil der Zusammengehörigkeit: „Wir Deutschen sind ein Volk und eine Nation“, betont er - ein sich wenige Jahre später mit der staatlichen Einheit erfüllender Zukunftstraum.

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Im Kontext dieser historischen Wendung sind die Stränge zwischen Vergangenheit und Gegenwart mehr denn je präsent. Um einige Beispiele zu nennen: Das Grundgesetz, das die positiven wie negativen Erfahrungen mit der Weimarer Verfassung zu berücksichtigen versuchte, hat dem Land eine stabile politische Verfasstheit verschafft, die anfangs erheblich infrage stand. Die Grund- und Menschenrechte als unumstößlicher Kodex des gesellschaftlichen Gestaltungsrahmens bilden das Kernstück demokratischer Identität. Der Zivilisationsbruch Auschwitz ist als konstitutives Element der politischen Kultur anerkannt, so dass Bundeskanzlerin Angela Merkel das Existenzrecht Israels zur deutschen Staatsräson erklären kann. Der Antisemitismus ist in der Öffentlichkeit geächtet, bei Zwischenfällen geht ein Aufschrei durchs Land.

Geschichtspolitik und Erinnerungskultur haben, gerade nach der staatlichen Vereinigung im Blick auf zwei Diktaturen, ein breites Bewusstsein für das Unrecht der Vergangenheit und ein zivilgesellschaftliches Engagement gegen extreme und populistische Gefährdungen und Risiken geschaffen. Wer dennoch mit der Stunde Null politisch argumentiert, ist den Schlussstrich-Apologeten zuzurechnen, den Predigern gegen die „Dauerbüßeraufgabe“, wie Franz-Josef-Strauß es artikulierte, gegen das „Bußritual“, wie es der Schriftsteller Martin Walser und der Philosoph Hermann Lübbe ausdrückten. Dagegen hat weiter Bestand, was der Althistoriker Christian Meier schrieb: „Wir werden ein unbefangenes Verhältnis zu unserer Geschichte nicht wieder gewinnen. Selbst das Bewusstsein ihres Reichtums wird immer überschattet bleiben.“