Bilanz zum Afghanistan-Ausschuss : Von den Entwicklungen völlig überrascht
Alleingänge der USA und Fehleinschätzungen in der Bundesregierung haben der Untersuchung zufolge zum chaotischen Ende der Afghanistan-Mission geführt.
Zweieinhalb Jahre lang hat der Bundestag in einem Untersuchungsausschuss aufgearbeitet, wie der Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und die Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen im Sommer 2021 vonstatten ging - und welche Rolle deutsche Behörden dabei gespielt haben. Mehrere zehntausend Dokumente, E-Mails und Gesprächsprotokolle aus den Ministerien haben die Abgeordneten dafür gesichtet und mehr als hundert Zeugen aus den deutschen Ministerien befragt. Ausgesagt haben aber auch ausländische Experten, afghanische Ortskräfte sowie der ehemalige afghanische Außenminister Hanif Atmar.
Wichtigste Informanten: Beamte aus den unteren und mittleren Etagen
Schließlich, im Herbst und Winter 2024, hörten die Abgeordneten auch ehemalige Staatssekretäre, Ministerinnen und Minister sowie als letzte Zeugin Angela Merkel (CDU) an, die als Bundeskanzlerin im entscheidenden Jahr 2021 die Gesamtverantwortung für das Handeln der Bundesregierung trug. Die wertvollsten Informationen lieferten dem Ausschuss jedoch Beamtinnen und Beamte aus den unteren und mittleren Etagen der Ministerien und der Bundeswehr.
Der Abschlussbericht soll der Bundestagspräsidentin am 18. Februar übergeben werden. Während er üblicherweise aus zwei Teilen – den Schlussfolgerungen der Koalitionsfraktionen und denen der Oppositionsfraktionen – besteht, werden die Fraktionen im Fall des Afghanistan-Untersuchungsausschusses getrennte Schlussfolgerungen vorlegen.
Die USA haben in der Endphase des Einsatzes allein gehandelt
Auch wenn der Bericht noch nicht vorliegt, wurde im Verlauf der Untersuchung bereits deutlich, dass die USA in der Endphase des 20-jährigen Afghanistan-Einsatzes im Alleingang agierten. Was aus Sicht vieler Zeugen dazu führte, dass die beteiligten Ministerien in Deutschland die aufziehende Notlage zu unterschiedlichen Zeitpunkten erkannten – einige sogar erst, als die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul am 15. August 2021 einnahmen und erneut die Macht eroberten. Es folgte eine überstürzte Evakuierung von Botschaftspersonal, deutschen Staatsbürgern und Ortskräften. Das Drama, das sich am Flughafen Kabul abspielte, nannte Merkel im Ausschuss „ein furchtbares Scheitern der internationalen Gemeinschaft“.
Worum ging es dem Untersuchungsausschuss?
💡 Unter Leitung von Ralf Stegner (SPD) hat das elfköpfige Gremium seit September 2022 die Umstände und Verantwortlichkeiten rund um den Abzug der Bundeswehr in Afghanistan und die Evakuierung des deutschen Personals und der Ortskräfte untersucht.
⏰ Maßgeblich war die Zeit vom 29. Februar 2020 - dem Abschluss des “Doha-Abkommens” zwischen der US-Regierung und den Taliban über den Abzug - bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.
Zeugen wie der damalige Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) sahen die Ursache dafür im unkooperativen Handeln der damaligen US-Administration unter Donald Trump. Diese hatte mit den Taliban im Februar 2020 das sogenannte Doha-Abkommen verhandelt, das den Abzug der ausländischen Truppen regeln sollte. Doch über den Verlauf der Verhandlungen wurden die Verbündeten stets im Dunkeln gelassen. Als die Nato-Partner, darunter auch Deutschland, darauf drängten, den Taliban Bedingungen für einen Abzug zu stellen, beschwichtigten die US-Behörden: Das sei doch selbstverständlich. Geheime Zusatzvereinbarungen durften die Verbündeten erst spät und nur kurz in der Nato-Zentrale einsehen.
Am Ende stand ein Abkommen, das einen Abzug ohne Konditionen vorsah und das die afghanische Regierung ignorierte.
Das Auswärtige Amt erkannte die Notlage, geriet jedoch in einen inneren Konflikt
Lediglich das Verteidigungsministerium (BMVg) und die Bundeswehr erkannten schon unmittelbar nach Abschluss des Abkommens, dass der Abzug der deutschen Truppen nun schnell vorbereitet und vollzogen werden musste. Eine weitere militärische Präsenz der Bundeswehr in Afghanistan, betonten Mitarbeitende des Ministeriums in den Befragungen wiederholt, sei angesichts der Abhängigkeit von den Kapazitäten der USA nach deren Abzug undenkbar gewesen. Allerdings änderte der neue US-Präsident Joe Biden mehrfach das Abzugsdatum. Schließlich verkündete er im April 2021 den endgültigen Abzug der Amerikaner bis spätestens zum 11. September desselben Jahres.
Während des BMVg mit Ressortchefin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) daraufhin die Evakuierung der Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten vorantrieb, erkannte das Auswärtige Amt (AA) zwar die heraufziehende Notlage, geriet jedoch in einem inneren Konflikt. Zeugen zufolge hätten die Diplomaten gewusst, dass die Taliban bald an die Macht kommen würden, aber gehofft, Einfluss auf die Entwicklungen nehmen zu können. Auch sei versucht worden, die USA dazu zu bewegen, das Doha-Abkommen nachträglich mit Bedingungen zu versehen. Die Diplomaten des AA wollten auch die innerafghanischen Friedensgespräche unterstützen, in der Hoffnung, die Taliban würden die Macht mit anderen teilen. Außenminister Maas berichtete dem Ausschuss, es habe mehrere Verhandlungsmöglichkeiten gegeben, aber die USA hätten sie nicht genutzt.
Die Ressorts haben ihre Interessen nahezu kompromisslos verteidigt
Entwicklungsministerium (BMZ) und Innenministerium (BMI) hingegen fühlten sich von der Lage in Afghanistan zunächst nicht direkt betroffen. Während das BMZ davon ausging, die Entwicklungszusammenarbeit würde nahtlos weitergehen, war für das BMI erst mal nur wichtig, dass nicht zu viele Afghanen nach Deutschland kommen, erklärte Ressortchef Horst Seehofer (CSU) im Zeugenstand.
Die Ressorts versuchten ihre Arbeit, wie bei kritischen Sachverhalten üblich, in einer Staatssekretärsrunde abzustimmen. Hauptdiskussionspunkt wurde schnell die Frage, wie mit den afghanischen Ortskräften umgegangen werden sollte. Im Untersuchungsausschuss wurde klar: Jedes Ressort verteidigte seine Interessen nahezu kompromisslos, obwohl alle Beteiligten bis heute beteuern, harmonisch zusammengearbeitet zu haben.Tatsächlich konnte keiner von ihnen vor dem Ausschuss auch nur eine einzige Entscheidung nennen, die in der Runde getroffen wurde. Minister oder die Bundeskanzlerin wurden nur selten gebeten, einzuschreiten.
Die Bundeswehr wollte ihre langjährigen afghanischen Mitarbeiter nicht im Stich lassen. In einem unkonventionellen Schritt erklärte Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer öffentlich und ohne Absprache mit anderen Ressorts, die Bundeswehr werde ihre Ortskräfte evakuieren. In einer eher hemdsärmeligen Aktion stattete die Truppe ihre Ortskräfte daraufhin mit Visa aus. Fast alle konnten ausreisen.
Innenministerium hielt am bürokratischen Verfahren für Ortskräfte fest
Ortskräfte anderer Ressorts hatten weniger Glück. AA und BMZ befürchteten, ein falsches Signal zu senden und dadurch die afghanische Regierung zu torpedieren. Zudem gab es die Sorge, die eigene Arbeit zu lähmen. Das BMI stellte sich quer, indem es am regulären, jedoch bürokratischen und schwerfälligen Ortskräfteverfahren (OKV) festhielt – wohl wissend, dass dieses in Krisensituationen ungeeignet ist.
Allerdings stellte Innenminister Seehofer in seiner Befragung klar, dass aus Sicht des BMI eine Krise überhaupt erst am 15. August 2021 eintrat, als die Taliban Kabul einnahmen; eine Ansicht, der sich der damalige Entwicklungsminister und Seehofers Parteifreund Gerd Müller (CSU) bei seiner Vernehmung anschloss. Bis zu diesem Zeitpunkt lehnte das BMI den Vorschlag des AA ab, das OKV zu reformieren und den Ortskräften Visa an den deutschen Grenzen auszustellen. Die Folge: Bis heute konnten nicht alle aufnahmeberechtigten Ortskräfte ausreisen.
Ihr spätes Handeln begründeten AA, BMI und BMZ damit, dass der Bundesnachrichtendienst (BND) stets versichert habe, es sei noch Zeit - eine Aussage, die BND-Chef Bruno Kahl in einem Moment der Aufregung im Ausschuss als "himmelschreiende Ungerechtigkeit" bezeichnete. Der ehemalige Leiter des Bundeskanzleramtes, Helge Braun, stärkte Kahl den Rücken: Der Dienst habe sehr früh und relativ präzise davor gewarnt, dass das wahrscheinlichste Szenario eine Machtübernahme der Taliban sei, sagte er aus.
Beherzter Einsatz von Mitarbeitenden hat Schlimmeres verhindert
Zu denken, dass man noch Zeit habe, "war falsch, wie wir wissen", räumte der damalige Finanzminister und heutige Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Zeugenstand ein. Hätte man gewusst, wie schnell die Taliban das Land erobern würden, hätte man die Ortskräfte viel schneller aus dem Land gebracht.
Neben gravierenden Fehleinschätzungen brachte der Ausschuss aber auch positive Erkenntnisse hervor: So war es der beherzte Einsatz von Bundeswehrangehörigen, zivilen Beamten des AA am Flughafen Kabul und Mitarbeitenden in Berlin, der viele Mängel in den Berliner Strukturen auszugleichen vermochte.