
Gastkommentare : Hat sich die Wahlrechtsreform bewährt?
Hat die Ampel-Reform des Wahlrechts ihre Bewährungsprobe bei der Bundestagswahl bestanden? Kerstin Münstermann und Albert Funk im Pro und Contra.
Pro
Das Ziel ist erreicht - für eine neue Reform müssten sich alle bewegen

Man reibt sich ein wenig die Augen in den Tagen nach der Wahl: An internationalen Herausforderungen und Streitpunkten mangelt es nicht, falls es zu Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD kommt. Darbende Wirtschaft, Streit über Verteidigungsausgaben, Einschränkung der irregulären Migration, das Agieren von US-Präsident Donald Trump - um nur einige zu nennen.
Doch der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz nennt ausgerechnet das Wahlrecht als einen der ersten Punkte der Sondierungen, CSU-Chef Markus Söder macht eine erneute Änderung gar zur Bedingung für eine Koalition. Es stimmt: Die Union ist der große Verlierer der von der Ampel-Koalition durchgesetzten Bundestags-Wahlrechtsreform. Für 23 der 299 Wahlkreis-Sieger ist im nächsten Bundestag kein Platz. 15 von ihnen kommen von der CDU, drei von der CSU.
Doch dass erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik nicht alle Erststimmen-Gewinner ins Parlament einziehen, hat einen Grund, der seit langem das Ziel einer Wahlrechtsreform war: die Deckelung der Mandate. Vergangene Legislaturperiode saßen aufgrund von Überhang- und Ausgleichsmandaten 736 Abgeordnete im Bundestag, so viele wie nie zuvor: ein aufgeblähter, teurer Bundestag - so groß wie kein anderes demokratisches Parlament in der Welt.
Was es bräuchte, wäre ein Modell, das einerseits den Bundestag verkleinert und andererseits eine Balance zwischen Direktmandat und der Verhältniswahl schafft. Es gibt Vorschläge: Zum Beispiel könnte man die Grundlage, dass Wahlkreis-Gewinner automatisch in den Bundestag einziehen, beibehalten. Aber dann müsste die Zahl der Wahlkreise neu zugeschnitten werden und der Anzahl der Sitze im Bundestag entsprechen. Dafür müssten sich alle bewegen. Es lohnt sich, das neu anzugehen. Aber es ist nicht prioritär.
Contra
In sich stimmig ist die Wahlrechtsreform der Ampel nicht

Das Ziel der Ampel-Wahlrechtsreform war klar: ein kleinerer Bundestag ohne Überhangmandate. Das Mittel zum Zweck war dabei die stärkere Betonung der Zweitstimmen, weshalb die Wirkung der Erststimmen beschnitten wurde - mit der Nichtzuteilung von Direktmandaten im Fall von Überhängen. Anders gesagt: Die Komponente der Verhältniswahl wurde der Mehrheitswahlkomponente noch deutlicher übergeordnet.
In 23 Wahlkreisen war es nun der Fall, dass die Stimmenbesten leer ausgingen. Das war in der Dimension erwartbar, es hätten auch mehr sein können. In den Tagen nach der Wahl war viel von der Wahlkreisebene die Rede. Aber nicht nur wegen der Folgen der Wahlrechtsreform. Quer durch alle Medien ist die Wahlkreiskarte ein beliebtestes optisches Mittel, um das Gesamtergebnis anschaulich zu machen. Auch wenn Direktmandate heute oft mit deutlich weniger als 30 Prozent der Erststimmen gewonnen werden.
Offenkundig ist die Wahlkreisebene samt Erststimme und Direktmandat der Wählerschaft weniger gleichgültig, als die Schöpfer der Ampel-Wahlrechtsreform glaubten. Daher auch die verbreitete Irritation wegen der nicht zugeteilten Direktmandate - weil eben weiterhin Mehrheitswahl in Wahlkreisen veranstaltet wird, deren Ergebnis dann aber nicht zum Tragen kommt. Das Bundesverfassungsgericht ließ das durchgehen, musste sich dafür aber von einer jahrzehntelang verfolgten Maxime verabschieden: Dass ein Wahlgesetz in sich stimmig und folgerichtig sein müsse. Das Ampel-Wahlgesetz ist das nicht.
Der Gesetzgeber darf sich aber weiterhin an diese Maxime halten. Es bleiben zwei Möglichkeiten. Soll es bei der Verbindung von Mehrheits- und Verhältniswahl bleiben, müsste die Zahl der Wahlkreise erheblich verringert werden. Der andere Weg ist der Systemwechsel hin zu einem Wahlrecht ohne Mehrheitswahlkomponente. Das sollte mutig und sorgsam ausgelotet werden.
Mehr zur den Folgen der Wahlrechtsreform

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