1,1 Millionen Asylbewerber in 2023 : Fluchtziel Europa
2023 verzeichnete die EU die meisten Asylanträge seit 2016. Hauptzielland war erneut Deutschland. Bei der Pro-Kopf-Belastung steht Zypern an erster Stelle.
Die anhaltend hohen Flüchtlingszahlen setzen Länder und Kommunen bei der Unterbringung und Versorgung der Neuankömmlinge weiter unter Druck; längst wird in der Politik wieder von einer "Migrationskrise" gesprochen, und auch der Ruf nach einer "Obergrenze" macht erneut die Runde. Geht es nach Sachsens Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU), sollte sie in den nächsten Jahren bei höchstens 60.000 Menschen jährlich liegen. Das wäre maximal ein Drittel der 2018 von CDU, CSU und SPD in ihrem damaligen Koalitionsvertrag als Zuwanderungszahlen anvisierten Spanne von 180.000 bis 220.000 pro Jahr.
Ein Blick in die aktuellen Zahlen
Auch die wackelte 2022 gewaltig und wurde im vergangenen Jahr klar übertroffen, selbst wenn man von den ukrainischen Kriegsflüchtlingen absieht, die auch ohne Asylantrag in der EU vorübergehenden Schutz erhalten. Dabei ist Deutschland längst nicht das einzige Land in Europa, das vom Migrationsgeschehen vor große Herausforderungen gestellt wird (und Europa nicht der einzige Zielraum der globalen Flüchtlingsströme). Ein Blick auf die aktuellen Flüchtlingszahlen von 2024 und 2023 in Deutschland und Europa:
In der Bundesrepublik stellten allein in den ersten beiden Monaten dieses Jahres gut 47.000 Menschen einen Erstantrag auf Asyl, wobei rund 2.800 Anträge hierzulande geborene Kinder unter einem Jahr betrafen. Im Vergleich zum Januar und Februar des Vorjahres bedeutet dies ein Rückgang um 13,3 Prozent, wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) mitteilte. Damals wurden in beiden Monaten zusammen mehr als 54.000 Erstanträge registriert. Ab April 2023 stiegen die Zahlen kontinuierlich an bis auf 35.300 im November; seitdem liegen sie wieder deutlich darunter.
Der höchste Stand seit 2016
Im gesamten Jahr 2023 summierte sich die Zahl der Asylerstanträge laut Bamf auf gut 329.000 - der höchste Stand seit der "Flüchtlingskrise" von 2015 und 2016 mit mehr als 440.000 beziehungsweise 722.000 Erstanträgen. Damals ging ihre Zahl danach kontinuierlich zurück bis auf knapp 103.000 im Corona-Jahr 2020. Seitdem weisen die Jahreswerte wieder nach oben; 2022 waren es fast 218.000 Erstanträge.
Diese Entwicklung spiegelt sich auch in den Asylantragszahlen auf europäischer Ebene wider, wenngleich die nationalen und europäischen Asylstatistiken Unterschiede aufweisen und nur bedingt vergleichbar sind: Rund 1,3 Millionen Erst- und Folgeanträge verzeichneten die 27 EU-Mitgliedsstaaten sowie Norwegen und die Schweiz ("EU+") nach Angaben der EU-Asylagentur EUAA insgesamt im Jahr 2015 und etwa 1,2 Millionen im Folgejahr; dem folgte ein Rückgang bis auf gut 460.000 Anträge im Jahr 2020. Danach gab es wieder einen kräftigen Anstieg auf zuletzt 1,1 Millionen Asylanträge, die 2023 von den Staaten der EU+ registriert wurden. Im Vergleich zum Vorjahr war das nochmal ein Anstieg um 18 Prozent, wie die EU-Asylagentur jüngst berichtete.
Deutschland ist attraktiv
Danach blieb Deutschland auch im vergangenen Jahr für Asylbewerber das wichtigste Zielland in der Europäischen Union mit 29 Prozent aller in der EU+ gestellten Anträgen, gefolgt von Frankreich mit 15 Prozent, Spanien mit 14 Prozent und Italien mit zwölf Prozent. Auf diese vier Länder entfielen damit im vergangenen Jahr mehr als zwei Drittel aller in der EU+ gestellten Anträge.
Während die Bundesrepublik also von allen EU-Staaten in absoluten Zahlen mit Abstand am meisten Asylbewerber aufnimmt, sieht das anders aus, wenn deren Zahl in Relation zur Bevölkerungszahl der einzelnen Länder betrachtet wird. So wurden dem EUAA-Bericht zufolge in Zypern mit seinen rund 921.000 Einwohnern im vergangenen Jahr 12.000 Asylanträge gestellt, was einer Rate von 13.000 Anträgen pro einer Million Einwohnern entspricht beziehungsweise einem Antrag pro 78 Einwohnern. Im Vergleich dazu weist Deutschland mit seinen gut 84 Millionen Einwohnern eine deutlich niedrigere Quote auf, wie die EU-Asylagentur vorrechnet: Danach kommen hierzulande 4.000 Anträge auf eine Million Einwohner beziehungsweise ein Antrag auf 252 Einwohner.
Die Inselrepublik Zypern verzeichnet die höchste Anzahl an Asylanträgen gemessen an der Bevölkerungszahl in der Europäischen Union. Das Unterbringungszentrum für Asylbewerber in der Gemeinde Kofinou besuchte zuletzt auch der deutsche Bundespräsident, Frank-Walter Steinmeier.
Ungarn hat eine besondere Rolle
Eine stark unterschiedliche Zahl an Asylanträgen verzeichneten den Angaben zufolge 2023 beispielsweise auch Belgien mit 35.000 und Estland mit 4.000. Pro Kopf gesehen standen sie damit jedoch vor einer ähnlich großen Herausforderung mit jeweils etwa 3.000 Anträgen pro Million Einwohnern. Für die 29 Staaten der EU+ ergibt sich mit einer Bevölkerung von 463 Millionen und 1,1 Millionen Asylanträgen im Jahr 2023 eine Quote von 2.500 Anträge pro eine Million Einwohner, also etwa ein Antrag pro 400 Personen.
Eine besondere Position unter den Staaten der EU+- bescheinigt der EUAA-Bericht Ungarn, auf das im vergangenen Jahr trotz einer Bevölkerungszahl von mehr als 9,5 Millionen Menschen nur 30 Asylanträge entfallen seien. Für die EU-Asylagentur ist das wahrscheinlich darauf zurückzuführen, "dass Antragsteller seit 2020 eine Absichtserklärung bei einer ungarischen Botschaft in einem Nicht-EU-Land abgeben müssen, bevor sie in das Land einreisen und internationalen Schutz beantragen können".
Mehr als vier Millionen Ukraine-Flüchtlinge
Insgesamt liegen dem Bericht zufolge zwölf der 29 betrachteten Staaten bei der Zahl der 2023 gestellten Asylanträge pro Kopf der jeweiligen Bevölkerung über dem Durchschnitt der EU+. Dabei rangiert Deutschland hinter Zypern, Österreich und Griechenland auf Platz vier, gefolgt von Luxemburg, Bulgarien und der Schweiz. Unter dem Durchschnitt liegen 17 Staaten, darunter - knapp - Frankreich, Italien und die Niederlande sowie schließlich am unteren Ende Portugal, Tschechien und die Slowakei vor Schlusslicht Ungarn.
Dieses Bild muss freilich ergänzt werden um die Aufnahme von laut EUAA etwa 4,4 Millionen Flüchtlingen aus der Ukraine, die in der EU einen vorübergehenden Schutz erhalten, ohne einen Asylantrag stellen zu müssen. Dabei befand sich Ende 2023 die Hälfte aller vorübergehend Schutzberechtigten entweder in Deutschland (1,2 Millionen) oder Polen (eine Million), wie die Asylagentur in dem Bericht schreibt.
Danach liegt im Verhältnis zur jeweiligen Einwohnerzahl Tschechien unter den Staaten der EU+ mit etwa 34.000 dieser Schutzberechtigten pro einer Million Einwohnern - oder einem pro 29 Einwohnern - an der Spitze. Es folgen Bulgarien, Estland, Litauen und Polen, bei denen jeweils rund 26.000 vorübergehend Schutzberechtige auf eine Million Einwohner kommen oder einer auf 38 beziehungsweise 39 Einwohner. Deutschland kommt dabei unter den 29 Staaten der EU+ auf den zehnten Platz, noch hinter Lettland, der Slowakei, Zypern und Irland, liegt aber über den Gesamtdurchschnitt. Am Ende dieser Skala steht Frankreich hinter Griechenland, Italien und Ungarn.
Asylantragsteller: Syrer liegen an der Spitze
Bei den Hauptstaatsangehörigkeiten der Asylantragsteller standen bei den Ländern der EU+ dem EUAA-Bericht zufolge auch im vergangenen Jahr Syrer klar an der Spitze mit insgesamt 181.000 Anträgen, was einem Anstieg von 38 Prozent im Vergleich zu 2022 bedeutet. Wie seit vielen Jahren bildeten Afghanen erneut die zweitgrößte Gruppe, stellten indes mit 114.000 laut Asylagentur elf Prozent weniger Anträge als im Jahr 2022.
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Bei den nationalen Zahlen des Bundesamtes für Flüchtlinge und Migration spiegelt sich das nur teilweise nieder. So stieg auch bei den in Deutschland gestellten Asylerstanträgen die Zahl syrischer Antragssteller als der mit weitem Abstand größten Gruppe laut Bamf 2023 deutlich an, nämlich von rund 71.000 im Jahr 2022 auf etwa 103.000 im vergangenen Jahr. Zugleich erhöhte sich die Zahl der hierzulande gestellten Erstanträge afghanischer Staatsangehörigen von mehr als 36.000 im Jahr 2022 auf gut 51.000 im Jahr darauf. Gleichwohl fielen Afghanen 2023 bei den Hauptstaatsangehörigkeiten der Erstantragsteller vom jahrelang eingenommenen zweiten auf den dritten Platz hinter Asylbewerber türkischer Staatsangehörigkeit zurück, die nach knapp 24.000 Erstanträgen in 2022 mehr als 61.000 im vergangenen Jahr stellten.
Mehr türkische Kurden beantragen Asyl
Damit hatte wie im Vorjahr auch 2023 fast jeder dritte Erstantragsteller in Deutschland eine syrische Staatsangehörigkeit. Der Anteil der Afghanen an der Zahl aller hiesigen Erstantragsteller sank dagegen von 16,7 Prozent auf 15,6 Prozent, während der türkischer Staatsangehöriger von 11,0 Prozent auf 18,6 Prozent emporschnellte. Nach Angaben der Bundesregierung stieg dabei die Zahl der Erstanträge türkischer Asylbewerber mit kurdischer Volkszugehörigkeit von 19.500 im Jahr 2022 auf mehr als 51.000 im vergangenen Jahr, während sie bei den Antragstellern mit türkischer Volkszugehörigkeit im Jahr 2023 bei gut 8.000 lag nach knapp 4.000 im Vorjahr.