US-Raketen in Deutschland : Nötiger Schutz oder neuer Kalter Krieg?
In Deutschland sollen US-Marschflugkörper stationiert werden. Für Kritiker ist es der Start in ein neues Wettrüsten.
Als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Stationierung von US-Langstreckenwaffen im Juli am Rande des Nato-Gipfels in Washington bekannt gab, ging die Meldung zuerst fast unter. Zwar sagte Scholz: "Diese Entscheidung ist lange vorbereitet und für alle, die sich mit Sicherheits- und Friedenspolitik beschäftigen, keine wirkliche Überraschung", aber weite Teile der Öffentlichkeit wurden von der Ankündigung komplett überrascht. So verfestigte sich der Eindruck, dass die Bundesregierung es versäumt habe, die Öffentlichkeit rechtzeitig über dieses Vorhaben zu informieren.
Erstmals werden wieder US-Mittelstreckenwaffen stationiert
Erstmals seit den 1990er Jahren werden US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland stationiert. Dabei handelt es sich um drei Typen. Ab 2026 sollen Tomahawk-Marschflugkörper mit einer Reichweite bis zu 2.500 km entsendet werden. Damit würden von Deutschland aus Russlands westliche Militärbezirke im Zielbereich liegen. Zudem kommt die Standard Missile 6 (SM6), eine ballistische Rakete. Drittens wird die Long-Range Hypersonic Weapon (LRHW), Codename: Dark Eagle, stationiert. Diese Hyperschallrakete kann rund 3.000 Kilometer weit fliegen. Damit reagiert die NATO auf die Stationierung nuklearfähiger Iskander-Raketen, die Russland 2018 in der Exklave Kaliningrad aufgestellt hat.
Bundeskanzler Scholz hat die US-Stationierung als Beitrag zur Sicherung Deutschlands bezeichnet. "Das erhöht die Sicherheit wegen der Abschreckungswirkung", sagte er. Doch die Kritik kam postwendend und ist seitdem nicht abgerissen. Mehr noch: Die Debatte hatte Auswirkungen auf die Ergebnisse der Landtagswahlen in Ostdeutschland. Dort hat vor allem das "Bündnis Sahra Wagenknecht" (BSW) Wahlkampf gegen die Stationierung gemacht.
Aber auch in Teilen der SPD und bei den Grünen weckt die deutsch-amerikanische Vereinbarung Sorgen vor einem neuen Wettrüsten. In einem Papier für die Friedrich-Ebert-Stiftung stellte Wolfgang Richter, Oberst a.D. der Bundeswehr und lange Jahre deutscher Vertreter bei Abrüstungsgesprächen der Vereinten Nationen und der OSZE, fest: Die Absichtserklärung zur Raketenstationierung sei zwar auch eine Reaktion auf den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und solle der Abschreckung vor einem Angriff auf die Nato dienen. Doch sie folge primär einem US-Konzept von 2017. "Die Stationierung würde präzise konventionelle Überraschungsangriffe auf strategische Ziele in Russland erlauben und so das nukleare Gleichgewicht mit den USA, und die strategische Lage Deutschlands verändern". In einer Krise könne dies zum russischen Präventivschlag führen.
New Start-Vertrag läuft 2026 ersatzlos aus
Zudem könnte der Schritt einen Stationierungswettlauf auslösen und den letzten Rest an Rüstungskontrolle zerstören. Wenn der New Start-Vertrag Anfang 2026 ersatzlos auslaufe, gebe es keine rechtsverbindlichen Vereinbarungen mehr, die einen nuklearen Rüstungswettlauf verhindern könnten. Die Risiken würden vor allem Europa betreffen, nicht die USA, die außerhalb der Reichweite russischer Mittelstreckenwaffen liegen. Um das zu ändern, müsste Russland ähnliche Waffen auf Kuba oder in Venezuela stationieren. "Deeskalation ist in unserem Sicherheitsinteresse, darüber muss mit Moskau trotz des Ukrainekrieges gesprochen werden", fordert Richter. Doch von Dialog sei aktuell keine Rede.
Braucht Deutschland gegen Bedrohungen Russlands den Schutz durch neue Mittelstreckenraketen der USA? Julia Weigelt und Stephan Hebel im Pro und Contra.
Wie die Ukraine-Unterstützung der USA nach den Wahlen konkret aussehen wird, ist unklar. Europa wird mehr Verantwortung übernehmen müssen.
Dieser Einschätzung widerspricht Fabian Hinz, Research Fellow am International Institute for Strategic Studies in Berlin. Die gegenwärtige Lage unterscheide sich deutlich von jener in den 1980er Jahren. Damals habe der Konflikt im Zeichen nuklearer Trägersysteme gestanden, während es sich bei der aktuellen US-Stationierung bisher ausschließlich um konventionell bestückte Systeme handele. Zudem habe zwischen den beiden Machtblöcken eine ungefähre Parität in Bezug auf Nuklearwaffen und deren Trägersysteme geherrscht, und es habe grundsätzlich Gesprächsbereitschaft bestanden. "Heute fehlt dieses Fundament. Russland agiert nicht mehr als europäische Status-quo-Macht, sondern als aggressiv revisionistischer Akteur", sagt Hinz. Auch fehle eine an Ausgleich interessierte Figur, wie damals der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow.
Aktuell müsse die Verteidigungsfähigkeit des eigenen Landes und des eigenen Bündnisses gesichert werden. Dazu gehörten auch präzise und reaktionsschnelle Abstandswaffen, wie jene, die die USA nun stationieren möchten. Die Stationierung der US-Raketen könne jedoch nur ein erster Schritt sein. Grundsätzlich sei es "unerlässlich, mittel- und langfristig über eigene europäische Fähigkeiten im Bereich bodengestützter weitreichender Waffen nachzudenken", sagt Fabian Hinz.