
Demokratie im Zeitraffer : Wie die Volkskammer den Weg zur deutschen Einheit ebnete
Vor 35 Jahren trat die erste frei gewählte DDR-Volkskammer zusammen. Innerhalb von sechs Monaten entschieden die Volksvertreter über die deutsche Vereinigung.
Am Vorabend des 5. April 1990, des Tages, an dem sich vor 35 Jahren die frei gewählte Volkskammer der DDR konstituierte, widerfuhr Sabine Bergmann-Pohl ein heftiger Schrecken. Die damals 44 Jahre alte Berliner Lungenfachärztin war in die Parteizentrale der Ost-CDU gekommen, um mit christdemokratischen Parteifreunden und einem Abgesandten von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) Einzelheiten ihrer geplanten Kandidatur für das Amt der Volkskammerpräsidentin zu besprechen.
Bei dieser Gelegenheit erfuhr sie, dass eine Verfassungsänderung geplant war mit dem Ziel, den Vorsitz im Parlament mit dem Amt des Staatsoberhauptes zu verbinden. Das sei für sie ein Schock gewesen, sagte sie später: "Ich habe gedacht: um Gottes Willen, was tust du dir da an?" Dennoch ließ sie sich auf die doppelte Aufgabe ein. Tags darauf, nur zweieinhalb Wochen nach der einzigen freien Volkskammerwahl vom 18. März, wählte das neue Parlament die CDU-Kandidatin im zweiten Wahlgang mit 214 von 390 Stimmen zu seiner Präsidentin, die - wie sie selbst sagte - "quasi ehrenamtlich auch das Staatsoberhaupt ist."
Ursprünglich sollten die ersten freien Wahlen zur Volkskammer erst im Mai 1990 stattfinden
Den Weg zu einer demokratischen Volksvertretung hatte der nach dem Mauerfall und der Entmachtung der SED gegründete Zentrale Runde Tisch geebnet. Das von Kirchenvertretern angeregte und moderierte Gremium verstand sich als Forum aller gesellschaftlichen Kräfte zur Überwindung der von der SED-Führung verursachten Krise. Ihm gehörten in paritätischer Besetzung Vertreter etablierter Parteien und oppositioneller Bewegungen an. Ihre Aufgabe sahen sie darin, sich mit den politischen Ideen und Erwartungen der Bürger auseinanderzusetzen sowie Konzepte für eine neue politische Ordnung zu erarbeiten. Vor allem aber ging es darum, freie Wahlen zu organisieren.

Insgesamt 26 Wochen besteht die erste frei gewählte Volkskammer der DDR. Sabine Bergmann-Pohl (vorne rechts) wurde am 5. April 1990 bei der Konstituierenden Sitzung der neuen Volkskammer zur Präsidentin gewählt.
Schon beim ersten Treffen am 7. Dezember 1989 im Ost-Berliner Dietrich-Bonhoeffer-Haus legte sich der Runde Tisch auf den 6. Mai 1990 als Termin für freie Wahlen zur Volkskammer fest. Doch als sich nach dem Jahreswechsel die wirtschaftliche Lage weiter zuspitzte, die Ausreisewelle anhielt und die Staatsautorität rasant zerfiel, drängten immer mehr Teilnehmer des Runden Tisches auf einen früheren Termin. Am 28. Januar 1990 entschied das Gremium gemeinsam mit dem amtierenden Ministerpräsidenten Hans Modrow (SED), den Wahltermin auf den 18. März vorzuziehen.
Westliche Politik-Prominenz mischte im Wahlkampf kräftig mit
Wahlkämpfe kannten die DDR-Bürger nur aus dem Westfernsehen. Nun erlebten sie, wie das Land mit Plakaten, Broschüren und Werbeslogans überschwemmt wurde. Die etablierten West-Parteien, die formal gar nicht zur Wahl standen, führten bei dieser Kampagne Regie. Die bundesdeutsche SPD unterstützte ihre im Jahr zuvor unter dem Namen SDP gegründete Schwesterpartei mit prominenten Wahlkämpfern wie Alt-Kanzler Willy Brandt. Die FDP warb mit dem Bonner Außenminister und gebürtigen Hallenser Hans-Dietrich Genscher (FDP) für den "Bund Freier Demokraten". Und die CDU unter ihrem Vorsitzenden Helmut Kohl griff der auf seine Initiative neu gegründeten "Allianz für Deutschland" als Wahlkämpfer unter die Arme. Sie bestand aus einem Zusammenschluss von CDU (Ost), der "Deutschen Sozialen Union" (DSU) und dem von Bürgerrechtlern gegründeten "Demokratischen Aufbruch" (DA).
Die ursprünglichen Träger der friedlichen Revolution, die sich eine erneuerte, demokratische DDR wünschten, waren auf sich allein gestellt. Sie verfügten weder über einen funktionierenden Parteiapparat noch über eine gesicherte Finanzierung.
Die Allianz für Deutschland wird klarer Wahlsieger
Die Bürgerbewegungen "Initiative Frieden und Menschenrechte", "Demokratie jetzt" und " Neues Forum" traten gemeinsam als "Bündnis 90" bei der Wahl an und erlebten am 18. März eine schmerzvolle Niederlage. Bei einer Rekord-Wahlbeteiligung von 93,4 Prozent gaben lediglich 2,9 Prozent der Wähler dem Bündnis ihre Stimme.
„Das Ja zur Einheit ist gesprochen, über den Weg dorthin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben.“
Die Allianz für Deutschland, die sich für eine baldige Wiedervereinigung stark machte, wurde mit einem Anteil von 48 Prozent der Stimmen klarer Wahlsieger. Sie lag damit deutlich vor der lange favorisierte SPD, die nur knapp 22 Prozent erhielt, Die PDS als Nachfolgepartei der SED erreichte 16,4 Prozent der Stimmen.
In der frisch gewählten Volkskammer ging es unkonventionell zu
Die 409 Abgeordneten, die zur ersten Sitzung der frei gewählten Volkskammer im Plenarsaal des Palastes der Republik Platz nahmen, waren überwiegend politische Amateure, West-Kollegen sagten auch spöttisch "Laienspieler". Auch wenn die meisten von ihnen zuvor der SED oder einer Blockpartei angehörten, hatte ihnen niemand beigebracht, wie man eine Regierung kontrolliert und Gesetze macht. "Ich hatte von parlamentarischer Arbeit keine Ahnung", hat selbst Parlamentspräsidentin Bergmann-Pohl eingeräumt. Zu ihrem Glück hatte sie in dem Sozialdemokraten Reinhard Höppner einen hoch kompetenten Stellvertreter, der vor allem die schwierigen Sitzungen leitete, wobei ihm seine Erfahrungen als Präses der Evangelischen Synode zugute kamen.
Im Gegensatz zum etablierten Bundestag mit seinen eingespielten Regeln ging es in der Volkskammer unkonventionell zu. Es gab, zumindest anfangs, kaum Fraktionszwang, Redezeiten wurden maßlos überschritten, Zwischenfragen sowie Einlassungen reichlich zugelassen. Und anders als bisweilen in Bonn lieferten sich die politischen Neulinge keine inszenierten Schaukämpfe mit abgedroschenen Phrasen. Die Debatten waren heftig, mitunter auch ungezügelt und ein wenig chaotisch, aber oft spannend. Über das Fernsehen nahmen die Bürger regen Anteil. Was sie sahen und hörten, war lebendiger Parlamentarismus.
Koalitionsregierung unter de Maizière stand vor schwieriger Aufgabe
Am 12. April 1990 bekundete die Volkskammer ihren Willen zur deutschen Einheit. Die beiden Teile Deutschlands sollten zusammenwachsen und "dabei die Herausbildung einer gesamteuropäischen Friedensordnung im Rahmen des KSZE-Prozesses fördern", hieß es in einer Erklärung. Zugleich bekräftigte das Parlament "die Unverletzlichkeit der Oder-Neiße-Grenze zur Republik Polen als Grundlage des friedlichen Zusammenlebens unser Völker in einem gemeinsamen europäischen Haus".
Am selben Tag wurden der Christdemokrat Lothar de Maizière (CDU) als Ministerpräsident und sein Kabinett vor der Volkskammer vereidigt. Die von ihm geführte Koalitionsregierung aus CDU, DSU, DA, SPD und Liberalen stand vor einer ungemein schwierigen Aufgabe. Sie sollte die DDR abwickeln, ihren Beitrag zur Vereinigung leisten und zugleich bei den Verhandlungen mit Bonn die Interessen der Bürger wahren. "Das Ja zur Einheit ist gesprochen", sagte de Maizière in seiner Regierungserklärung, "über den Weg dorthin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben."
Beim Einigungsvertrag griff die Volkskammer wiederholt ein
Unter den Wünschen und Forderungen der DDR-Bürger stand die Einführung der West-Währung obenan. "Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh'n wir zu ihr", hatten sie immer wieder gedroht. Unter diesem Druck widmeten sich die Verhandlungspartner aus Ost-Berlin und Bonn vorrangig den Themen Geld und Sozialleistungen. Am 18. Mai unterschrieben die Finanzminister beider Seiten den Vertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, den beide Parlamente am 21. Juni billigten. Er trat am 1. Juli in Kraft und brachte den DDR-Bürgern die heiß ersehnte D-Mark.
Schwieriger und zeitraubender gestalteten sich die Verhandlungen über das zweite Abkommen, das unter dem Etikett "Einigungsvertrag" den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik und die Angleichung des DDR-Rechts an die bundesdeutsche Ordnung regelte. Die Federführung lag zwar bei den beiden Regierungen, aber die Volkskammer war nicht bereit, alle Wünsche der Gegenseite zu erfüllen, und griff wiederholt in die Verhandlungen ein.

„Wir haben unseren Auftrag erfüllt, die Einheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung zu vollenden.“
In einem Punkt waren sich beide Seiten von vornherein einig: Die Vereinigung sollte als Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes erfolgen. Der andere mögliche Weg nach Artikel 146, für den sich vor allem ostdeutsche Bürgerrechtler stark machten, hätte einen zeitraubenden Umweg über eine neue Verfassung bedeutet.
Reinhard Höppner bewahrte die Volkskammer vor einem Eklat
Wäre es nach dem Willen der DSU gegangen, dann hätte die Vereinigung schon am 17. Juni stattgefunden, der im Westen als "Tag der deutschen Einheit" Feiertag war in Erinnerung an den Volksaufstand in der DDR von 1953. In einer Sondersitzung der Volkskammer, zu der mit Kanzler Helmut Kohl und Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) prominente Gäste aus Bonn gekommen waren, beantragte die DSU-Fraktion den sofortigen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Entsetzen auf der Regierungsbank. "Dann hätten wir 400.000 Sowjetsoldaten auf Nato-Territorium gehabt, ohne jegliche Regelung. Undenkbar", hat Lothar de Maizière später gesagt. Parlamentsvizepräsident Reinhard Höppner, der die Sitzung leitete, behielt kühlen Kopf. Er sorgte dafür, dass der DSU-Antrag an die Ausschüsse überweisen wurde und bewahrte so das Hohe Haus vor einem Eklat.
Am 22. August stand der Beitritt erneut auf der Tagesordnung. Nach leidenschaftlicher Debatte beschloss die Volkskammer weit nach Mitternacht mit 363 Ja- gegen 62 Nein-Stimmen bei sieben Enthaltungen den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik mit Wirkung zum 3. Oktober 1990.
Am 2. Oktober 1990 kam die Volkskammer ein letztes Mal zusammen
Nun bedurfte es noch der internationalen Absicherung. Am 12. September wurde der Zwei-plus-Vier-Vertrag zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges unterzeichnet; am 1. Oktober verzichteten die Alliierten auf ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Deutschland, das damit die volle Souveränität erhielt.
Am 2. Oktober kam das frei gewählte Parlament der DDR zum letzten Mal zusammen. "Mit dem morgigen Tag können wir sagen: Wir haben unseren Auftrag erfüllt, die Einheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung zu vollenden", bilanzierte Präsidentin Bergmann-Pohl. Sie habe einem unglaublich fleißigen Parlament vorgestanden. Dessen Arbeitspensum war außergewöhnlich. In den 26 Wochen des Bestehens der letzten Volkskammer haben die Abgeordneten bei 38 Sitzungen, die auch abends und nachts stattfanden, 759 Kabinettsvorlagen beraten, 164 Gesetze beschlossen und 93 Beschlüsse verabschiedet. Dass unter den Abgeordneten auch zahlreiche waren, die sich in der Vergangenheit mit der Stasi eingelassen hatten, wurde der Öffentlichkeit nicht verschwiegen.
Mit dem 3. Oktober ging auch Bergmann-Pohls zweite Funktion als Staatsoberhaupt zu Ende. In einem Interview erzählte sie später, dass Moskau im Mai 1990 einen Hardliner als Botschafter geschickt habe, dessen Beglaubigungsschreiben sie entgegennahm. Am letzten Tag der DDR habe es einen Empfang für die Diplomaten gegeben. “Da brachte er mir einen riesigen Blumenstrauß mit und sagte, dass er bei uns gelernt hätte, wie Demokratie funktionieren kann. Das ging mir sehr nahe.”
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