Wie Medien mit Fake News umgehen : "Skepsis ist die wichtigste Grundtugend"
Der Kampf gegen Fake News hat den Journalismus verändert, sagt dpa-Chefredakteur Sven Gösmann - und erklärt, warum das nicht schlecht sein muss.
Herr Gösmann, sind Sie schon einmal einer Falschmeldung aufgesessen?
Sven Gösmann: Das ist der dpa in ihrer 75-jährigen Geschichte natürlich schon passiert.
Worum ging es dabei?
Sven Gösmann: Die berühmteste Ente ist ein bisschen her und brauchte nicht einmal das Internet, es reichten schlecht unterrichtete Kreise: Das war die unzutreffende Nachricht vom Tod des sowjetischen Staats- und Parteichefs Nikita Chruschtschow 1964. Das gab - auch politisch - große Aufregung: Die Stimmung zwischen Bonn und Moskau verschlechterte sich, der dpa-Kollege musste das Land verlassen, das dpa-Büro wurde kurzzeitig geschlossen.
Und in jüngerer Zeit?
Sven Gösmann: Es gab ein paar wenige weitere Fälle. In der Bilanz ist das ganz ok. Es passieren natürlich immer mal Fehler.
Sven Gösmann ist Chefredakteur der größten Nachrichtenagentur Deutschlands. Die Deutsche Presse-Agentur hat seit 2017 eine eigene Faktencheckredaktion.
Was macht die dpa in so einem Fall?
Sven Gösmann: Bei uns sind Fehler besonders schwerwiegend, weil die dpa, wenn man so will, der Rohstoff ist, mit dem viele Nachrichtenorganisationen arbeiten. Dann muss man das zurückholen, die Kunden darauf aufmerksam machen, das ist für uns besonders schmerzhaft.
Aus Ihrer Erfahrung: Wer steckt hinter Falschnachrichten, wer hat ein Interesse an Manipulationen, und was für ein Interesse ist das?
Sven Gösmann: Das ist sehr unterschiedlich. Ich würde das in vier Interessengruppen unterteilen. Die bekanntesten sind Kräfte im Ausland, die ein Interesse daran haben, die deutsche Bevölkerung zu verunsichern - und wo könnten sie das besser als über ihren größten Nachrichtengeber und-verteiler? Die zweite Gruppe sind Menschen mit einem kommerziellen Interesse. Da geht es häufig darum, Traffic zu erzeugen für digitale Auftritte in sozialen Medien oder auch im Web. Das dritte ist die Lust an der Provokation und dass Vorführen der sogenannten traditionellen Medien. Das trifft nicht nur uns, sondern auch die öffentlich-rechtlichen und andere Qualitätsmedien, die man zu desavouieren versucht, indem man sagt:"Guck mal, was die verbreiten, stimmt ja gar nicht".
Und das vierte?
Sven Gösmann: Das vierte, nicht zu überschätzende ist ein anderes Phänomen, mit dem wir uns aber auch auseinandersetzen müssen. Das ist entstanden rund um die Etablierung von Faktenchecks in den Redaktionen deutscher Medienhäuser: Da sind wir besonders im Fokus von Menschen, die sich daran stören, dass wir sagen, "nein, die Welt ist keine Scheibe". Und die dann versuchen, unsere Glaubwürdigkeit an vielen Stellen zu unterhöhlen, indem sie uns immer wieder testen.
Wie stellt sich das in Ihrem Erleben quantitativ dar: Überwiegt die politische Manipulation oder der Promi-Gossip?
Sven Gösmann: Das Politische überwiegt, und das hat nochmal sehr stark zugenommen seit Corona.
Wie gefährlich ist das? Wird das Phänomen Fake News immer noch unterschätzt?
Sven Gösmann: Ich glaube, dass es im Gegenteil überschätzt wird, und zwar, weil es von einem anderen Phänomen überholt worden ist. Dieses andere Phänomen ist, dass man sich gar nicht mehr die Mühe macht, andere Medien täuschen zu wollen, sondern die ganze Öffentlichkeit, indem man selber Unwahrheiten postuliert - und damit beispielsweise ins Weiße Haus kommt. Man schafft sich über soziale Medien einen riesigen Resonanzraum und stellt uns damit vor ein Dilemma: Entweder wir greifen die Lügen und Desinformationen auf, um diese es zu widerlegen - damit transportieren wir aber auch die ursprüngliche Idee, und können als "Zensurbehörde" geschmäht werden. Oder wir ignorieren es, dann bleibt es unwidersprochen in der Welt. Im Grund eine lose-lose-Situation. Zumal die Lüge immer schneller ist als die Wahrheit.
Was tun Sie dagegen?
Sven Gösmann: Wir müssen früher ansetzen. Wir müssen dahin kommen, dass jede Redaktion ein Problembewusstsein hat. Erwachsene, Kinder und Jugendliche müssen lernen, auch in der modernen digitalen Welt falsch und richtig zu unterscheiden. Skepsis ist die wichtigste Grundtugend.
Was heißt das konkret?
Sven Gösmann: Wenn Sie wirklich gut sein wollen, so gut wie diejenigen, die fälschen, dann müssen Sie sich spezialisieren. Deshalb haben wir seit 2017 eine eigene Faktencheckredaktion. Die ist inzwischen auf über 30 Köpfe angewachsen, arbeitet in sechs europäischen Ländern, in drei Sprachen: Deutsch, Niederländisch, Französisch. Bei anderen Nachrichtenagenturen sieht das nicht anders aus. Das andere ist: Wir haben begonnen, die gesamte Redaktion technisch weiterzubilden, wir ermuntern alle, alles zu hinterfragen, sich im Zweifel mit Kolleginnen und Kollegen rückzukoppeln: "Kann das stimmen?" Wir halten das Vier-Augen-Prinzip hoch, auch dann, wenn in Randarbeitszeiten mal eine Kollegin allein in der Redaktion ist. Zudem sind wir Dienstleister...
...das bedeutet?
Sven Gösmann: Wir haben mit “dpa-factify” deutschen Medien eine Lernplattform geschaffen, und wir informieren große Nachrichtenredaktionen über dpa-Infokanal, eine Art Frühwarnsystem, mit Hinweisen etwa nach dem Muster: "Hier gibt es Berichte über einen Amoklauf, das soll das Video des Täters sein - wir haben verifizieren können: Das ist nicht der Täter." Die Sensibilität ist auch bei unseren Kunden längst eingezogen, im Zweifel verzichtet man auf die schnelle Verbreitung einer Nachricht. Todesmeldungen sind so ein klassisches Beispiel: Wir versuchen immer erstmal den vermeintlich Gestorbenen zu erreichen - oft genug geht er ans Telefon…
Mark Zuckerberg, der Inhaber von Meta, hat gerade angekündigt, in den USA auf seinen Plattformen auf Faktenchecks zu verzichten - was heißt das für dpa?
Sven Gösmann: Wir haben in Europa einen laufenden Vertrag mit Meta und bieten weiter Faktenchecks an. Das europäische Recht setzt Meta hier auch andere Grenzen, als Zuckerberg sie in den USA hat. Die Botschaft ist aber natürlich keine Gute: Sie öffnet die Tür für noch mehr Desinformation.
Das hört sich alles in allem sehr zeitintensiv. Journalisten neigen zu Ungeduld. Jeder will die News als erster verbreiten.
Sven Gösmann: Das stimmt. Und man verliert so vermutlich auch an Reichweite. Man erspart sich aber den Reputationsverlust, den eine spätere Korrektur bedeuten würde - und man gewinnt an Glaubwürdigkeit.
Welche Tools und Strategien nutzen Sie, um Desinformation zu entlarven?
Sven Gösmann: Wir unterscheiden zwischen Dingen: Ein Teil der Werkzeuge bildet für uns eine Art Radar. Die durchsuchen das Internet mit zum Beispiel der Echtzeit-KI-Plattform von Dataminr und zeigen uns an, wenn es an einer Stelle ein auffälliges Aufkommen von Nachrichten über einen Vorgang in sozialen Medien gibt, sei es eine Naturkatastrophe oder ein politischer Putsch. Dann können wir dem journalistisch nachgehen und Dank unseres weltweiten Netzes jemanden, der relativ nah am Ort des vermeintlichen oder tatsächlichen Ereignisses ist, bitten, sich das anzuschauen. Das andere Arbeitsfeld ist das, was wir "Forensik" nennen.
Was verbirgt sich dahinter?
Sven Gösmann: Das sind die Kollegen und Kolleginnen, die Technik anwenden, um zum Beispiel Videos zu prüfen. Die checken dann, ob der Sonnenstand stimmen kann, in dieser Region, um diese Uhrzeit, zu der das berichtete Ereignis stattgefunden haben soll. Manchmal kann man ganz simpel auf Google Street-View oder Earth prüfen: Gibt es diese Tür in diesem Haus überhaupt? Man kann zum Telefon greifen und nach Augenzeugen suchen. Und man kann natürlich herausfinden, ob ein Foto bearbeitet wurde.
Das klingt, als hätten, die neuen Herausforderungen der Gegenwart den Journalismus nicht unerheblich verändert.
Sven Gösmann: Ja. Früher haben wir Nachrichten transportiert vom Ort des Geschehens zum Endkonsumenten. Durch das Internet ist dieser einstige Wettbewerbsvorteil verschwunden. Die Informationshoheit ist weg. Jeder kann sich ein eigenes Bild machen. Jetzt geht es darum zu verifizieren, einzuordnen, zu erklären. Das ist eine intensivere Form von Journalismus als er manchmal früher gemacht wurde. Wir sind nicht mehr nur Chronisten. Ich finde das eine gute Entwicklung.
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