Bildungsforscherin Nina Kolleck : "Wir brauchen endlich einen Plan für die Schulen"
Wenn das Basiswissen über Demokratie fehlt, haben Fake News um so bessere Chancen, sagt Nina Kolleck und fordert eine entschlossene Strategie für die Schulen.
Frau Kolleck, als Hauptinformationsquelle geben Jugendliche schon lange nicht mehr die klassischen Medien an, wenn es um Nachrichtenkonsum geht. Auf welche Quellen stützen sie sich vor allem?
Nina Kolleck: Führend ist da auf jeden Fall TikTok, aber auch Instagram und YouTube sind vorn mit dabei. Auch das Internet bleibt eine zentrale Informationsquelle, und hier dann auch oft seriöse Seiten wie beispielsweise die der Bundeszentrale für politische Bildung. Aber Zeitungen, Radio und Fernsehen, die spielen eine immer geringere Rolle.
TikTok ist als Plattform für kurze Tanzvideo-Clips groß geworden. Warum geht von ihr nun so eine große Gefahr für die Demokratie aus?
Nina Kolleck: TikTok hat einen Algorithmus, der vor allem Videos belohnt, die besonders emotional und reißerisch sind. Das verhilft insbesondere Fake News zu einer Verbreitung, weil Fake News oft sehr emotionalisierend und skandalisierend sind. Noch dazu wissen wir, dass gerade extremistische Inhalte, wozu auch alle Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit gehören, auf TikTok viel stärker viral gehen als andere Themen.
Natürlich bekommen tanzinteressierte User viele Tanzvideos eingespielt. Aber dazwischen tauchen politische Informationen auf, auch von Influencern, die eigentlich mit einem anderen Thema bekannt geworden sind, beispielsweise durch Schminkvideos, und die dadurch den Vorteil haben, dass sie schon einmal das Vertrauen der User gewinnen konnten.
Wieso schaffen es sehr kurze Videoclips, Kinder und Jugendliche so stark zu beeinflussen?
Nina Kolleck: Wenn man so ein Video sieht und es spricht Themen an, die einen gerade bewegen, stärkt es kurzfristig den eigenen Selbstwert und bewirkt Glücksgefühle. Dopamin wird ausgestoßen, ich fühle mich wertgeschätzt und außerdem bin ich Teil einer Gruppe. Und dieser Dopamin-Kick kann zu einer Abhängigkeit führen, man will schnell mehr davon. Wir sehen in der Forschung aber auch, und das greift noch viel tiefer, dass es TikTok ganz gut gelingt, die psychologischen Grundbedürfnisse anzusprechen. Jeder Mensch hat sie und wir alle streben danach: uns autonom zu fühlen, uns kompetent zu fühlen, uns sozial eingebunden zu fühlen. Alles, was diese Grundbedürfnisse erfüllt, bringt uns dazu, Dinge freiwillig aus eigenem Antrieb zu tun. Darauf springen die sozialen Medien total gut an, insbesondere TikTok.
Hat es Sie verwundert, dass 40 Prozent der Achtklässler nur über rudimentäre digitale Fähigkeiten verfügen und nicht in der Lage sind, Quellen einzuschätzen?
Nina Kolleck: Nein. Denn Medienbildung stellt immer noch eine Randerscheinung in Schulen dar, ist eher so etwas wie ein freiwilliges Zusatzfach, weil die Lehrkräfte noch nicht dafür ausgebildet sind. Und das, obwohl die angehenden oder neuen Lehrkräfte Teil der Generation Z sind, die mit den sozialen Medien aufgewachsen ist, die aber selbst auch nicht diese Bildung erfahren hat. Medienbildung, Demokratiebildung und Extremismusprävention spielen noch eine sehr untergeordnete Rolle an den Schulen. Wir müssen nicht verstehen, wie ein Kühlschrank funktioniert, um einen Kühlschrank zu nutzen. Aber erst eine kritische Medienbildung sorgt dafür, sich vor Verschwörungsglauben zu schützen, Extremismus überhaupt als solchen zu erkennen und zu verstehen, was Demokratien sind.
Haben Sie Erkenntnisse darüber, wie präsent das Thema Fake News als Gefahr für die Demokratie an Schulen ist?
Nina Kolleck: Das hängt sehr von der Schulform und vom Bundesland ab. Aber aus Studien wissen wir, dass sich selbst in Schulen, die eine gute Medienbildung anbieten, ein Großteil der jungen Menschen das nötige Wissen außerhalb holt. Eltern sind für die politischen Einstellungen und den Zugang zu Medien enorm wichtig. Deswegen gibt es auch immer wieder Stimmen, die sagen, man muss jetzt den Eltern mehr Verantwortung geben. Da ist sicher etwas dran, aber ich halte es für nicht realistisch, dass alle Eltern das leisten können und wir allein mit dieser Forderung weiterkommen für unsere Gesellschaft.
Warum ist die Rolle politischer Bildung seit der Corona-Pandemie gesunken?
Nina Kolleck: Während der Schulschließungen in der Pandemie wurde der Fokus ganz stark auf die sogenannten Kernfächer, also Mathematik, Fremdsprachen, Naturwissenschaften, gelegt. Und da die Kompetenzen in diesen Kernfächern so dramatisch schlecht sind in Deutschland, hat sich daran bisher nichts geändert. Da fällt die politische Bildung hinten runter.
Besteht bei einem neuen Schulfach "Medienbildung" nicht die Gefahr, dass es als Fach wahrgenommen wird, das mit erhobenem Zeigefinger auf das böse Internet zeigt?
Nina Kolleck: Eigentlich wurden im Bereich Medienbildung und politische Bildung schon viele innovative Konzepte entwickelt, die darauf warten, umgesetzt zu werden. Viele Studien zeigen auch, dass Kinder ein großes Interesse an Politik und auch an der Erkennung von Fake News haben. Das Problem ist, dass es manchmal langweilig vermittelt wird, weil die Lehrkräfte nicht gut genug ausgebildet sind dafür und die Schulen das Thema in der zweiten Reihe abhandeln. Das merken auch die Schüler, die sich dann sagen: Ich konzentriere mich jetzt erstmal auf die "wichtigen" Fächer. Aber politische Mündigkeit entsteht nicht nur dadurch, dass ich in einem demokratischen Umfeld aufwachse, sondern auch, indem ich erstmal Basiswissen erlange. Das brauche ich, um mir ein politisches Urteil überhaupt erst bilden zu können. Genau da scheitern wir derzeit und auch wegen dieser Lücke sind Desinformation und Fake News so erfolgreich.
Der Erfolg von Social Media bei Kindern und Jugendlichen rührt auch daher, dass sie sich dort nicht von oben herab "belehrt" fühlen. Was kann die Institution Schule von dieser Art der Ansprache lernen?
Nina Kolleck: Die Forderung, dass Schulen demokratischer werden sollen, ist ja nicht neu. Schülerparlamente oder andere partizipative Verfahren, die es schon gibt, sollten aber noch gestärkt werden. Denn es ist doch ein Widerspruch in sich, wenn Schüler in einem Bildungssystem aufwachsen, in dem sie nicht wirklich Mitspracherechte sehen und ihnen dann aber erzählt wird, dass sie in einer Demokratie leben und dies die beste Staatsform sei. Aber die Schüler sind ja nicht doof, die erkennen den Widerspruch. Neben der Institution Schule muss dringend die außerschulische Medienbildung gestärkt werden. Auch hier gibt es schon sehr gute Ansätze, wie die digitale Sozialarbeit, die Kinder und Jugendliche direkt in ihrem digitalen Lebensumfeld abholt, wo sie oft ohne ausreichende Unterstützung mit Fake News, Desinformation und problematischen Inhalten konfrontiert werden.
Kann man sagen, dass bestimmte Gruppen von Kindern und Jugendlichen besonders anfällig sind für Fake News?
Nina Kolleck: Das Elternhaus ist sehr entscheidend. Die Wahrscheinlichkeit, Verschwörungsglauben anzuhängen, ist bei Kindern aus einem bildungsfernen Elternhaus und aus einem mit einem niedrigen sozioökonomischen Status viel höher als bei anderen. Auch die Region spielt eine Rolle: In ländlichen Regionen mit niedrigem sozioökonomischen Status ist der Hang zu Verschwörungserzählungen statistisch signifikant viel größer.
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Australien hat nun als erstes Land eine Altersgrenze von 16 Jahren für die Anmeldung bei sozialen Medien beschlossen, andere Länder wollen nachziehen. Wie bewerten Sie einen solchen Verbotsansatz?
Nina Kolleck: Eine reine Altersbeschränkung halte ich nicht für so sinnvoll. Dann starten die Jugendlichen vielleicht erst mit 16 in den sozialen Medien, wissen aber trotzdem nicht, wie sie damit umgehen sollen. Sie müsste deshalb mit einer Aufklärungskampagne kombiniert werden. Kinder und Jugendliche müssen lernen, mit sozialen Medien umzugehen und da hilft ein reines Stoppschild nicht weiter. Wir müssen sie befähigen, sich im digitalen Raum zu bewegen, so wie wir es im Straßenverkehr oder im öffentlichen Raum generell lernen zu tun. Und wir müssen dafür sorgen, dass sie wissen, was Desinformation, Extremismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sind und warum es wichtig ist, sich dagegen zu wehren.
Schulen und Lehrer klagen schon sehr lange über die Erwartungshaltung, bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen wieder gerade biegen zu sollen und sagen: Wir können nicht alles korrigieren.
Nina Kolleck: Wir können die Schulen mit diesem Thema auf jeden Fall nicht allein lassen. Es braucht jetzt endlich politische Maßnahmen, die Demokratiebildung an den Schulen zu stärken. Denn wenn wir langfristig gesellschaftlichen Frieden und ein demokratisches Miteinander sichern wollen, sind strategische Investitionen in diesem Bereich unerlässlich. Doch der Föderalismus und das Kooperationsverbot erschweren länderübergreifende Maßnahmen. Bildung genießt nach wie vor nicht den Stellenwert, den sie eigentlich verdient - ein Defizit, das sich auch im aktuellen Wahlkampf zeigt. Dabei gibt es Beispiele, die beweisen, dass Zusammenarbeit möglich ist, etwa das Startchancenprogramm oder der Digitalpakt. Was es jetzt braucht, ist ein langfristiger, politisch entschlossener Plan, der die Schulen nicht nur entlastet, sondern gezielt befähigt, die Herausforderungen der digitalen Informationsgesellschaft zu meistern.