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Kunst im Zeitalter der Extreme : Das Gedächtnis der Musik

Jeremy Eichler erkundet in "Echo der Zeit" die Spuren der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts in der großen Werken der Musik.

30.09.2024
True 2024-10-23T12:52:06.7200Z
2 Min

Dem Musiker Paul Wittgenstein hat der Komponist Maurice Ravel ein eigenes Werk auf den Leib geschrieben: Das "Konzert für die linke Hand" entstand, weil der Pianist im Ersten Weltkrieg den rechten Arm verloren hatte. Für Jeremy Eichler ist die Episode in seinem Buch "Das Echo der Zeit" ein Symbol der verheerenden Auswirkungen des "Zeitalters der Extreme". Der US-Journalist geht "mit den Ohren des Kritikers und Instrumenten des Historikers" in einer überaus fesselnden und unerhört detailreichen Spurensuche der Frage nach, wie sich die totalitäre Geschichte des 20. Jahrhundert in Leben und Werk von Richard Strauss, Arnold Schönberg, Dmitri Schostakowitsch und Benjamin Britten eingeschrieben hat.

Medium und Botschaft werden zu einer radikalen Einheit

Das Buch bleibt aber nicht bei vier der einflussreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, sondern spannt den Bogen bis zu Bach und Beethoven, zur deutschen Aufklärung und dem Anteil jüdischer Künstler daran, zu einem Bildungsideal, das mit den Nationalsozialisten, die Felix Mendelssohn Bartholdy aus dem musikalischen Gedächtnis tilgen wollten und mit dem Frauen-Orchester in Auschwitz an ein groteskes Ende kam.


Jeremy Eichler:
Das Echo der Zeit.
Die Musik und das Leben im Zeitalter der Weltkriege.
Klett-Cotta,
Stuttgart 2024;
464 S., 32,00 €


Anschaulich zeichnet das Buch eine "Emanzipation der Dissonanz" nach, die der Philosoph Theodor Adorno einmal als "Wahrheit über die Harmonie" bezeichnet hat. In Schönbergs Werk "A Survivor from Warsaw", eine der wichtigsten musikalischen Auseinandersetzungen mit dem Holocaust, werden Medium und Botschaft zu einer radikalen Einheit und machen die Zwölfton-Musik verständlich. Die Musik hat für Eichler die unterschätzte Fähigkeit, "geschichtlich Eingefrorenes aufzutauen". Sie behalte im Gedächtnis, was die Gesellschaft gern vergessen würde. Unverkennbar ist sein Buch von Walter Benjamins Geschichtsphilosophie inspiriert: Die Trümmer früherer Epochen sind auf ihre unverwirklichte Zukunft zu durchsuchen, um diese für die Gegenwart zu rehabilitieren. Mit dem "Echo der Zeit" ist Eichler dieser Versuch eindrucksvoll gelungen.

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