Die USA seit 1950 : Lincolns düstere Ahnung
Der Historiker Manfred Berg analysiert die Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft. So sei der Einzug Trumps ins Weiße Haus kein Betriebsunfall gewesen.
6. Januar 2021: Trump-Anhänger vor dem Sturm auf das Kapitol in Washington.
"One Nation under God - eine Nation unter Gott." Als am 6. Januar 2021 ein wütender Mob von Anhängern Donald Trumps das Kapitol in Washington D.C. gewaltsam stürmt, weil sie dessen Wahlniederlage ebenso wenig akzeptieren wollen wie der republikanische US-Präsident selbst, klingt diese Sentenz aus dem amerikanischen Treue-Eid wie Hohn. Die Bilder von der Erstürmung des amerikanischen Parlaments gleichen eher denen eines Bürgerkriegs.
160 Jahre zuvor hatte ein anderer republikanischer Präsident seine Landsleute noch eindringlich zur Geschlossenheit aufgerufen: "Wir sind keine Feinde, wir sind Freunde. Wir dürfen niemals zu Feinden werden", betonte Abraham Lincoln bei seiner Amtseinführung am 4. März 1861. Einen Monat später begann der Bürgerkrieg zwischen den Nord- und Südstaaten, den Blauen und den Grauen.
Die Gefahr eines Bürgerkriegs wird in den USA ernsthaft diskutiert
Könnten sich die USA nach der Präsidentschaftswahl am 5. November erneut mit einer Situation wie der am 6. Januar 2021 konfrontiert sehen? Stehen sie gar vor einem zweiten Bürgerkrieg - diesmal zwischen den Blauen und den Roten, einem demokratisch und einem republikanisch gesinnten Landesteil? Der Historiker Manfred Berg - er lehrt amerikanische Geschichte an der Universität Heidelberg - hält dies zumindest nicht für ausgeschlossen. Im Fall eines knappen oder gar unklaren Wahlausgangs werde Trump jedenfalls "nicht zögern, erneut den militanten Kern seiner Anhängerschaft zu mobilisieren", ist sich Berg sicher und verweist auf Umfragen, nach denen vor allem jüngere Amerikaner einen Bürgerkrieg für immer wahrscheinlicher halten.
Im Zentrum seines analytisch glänzenden und spannend erzählten Buchs "Das gespaltene Haus" steht allerdings primär die Frage, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass in den USA die Möglichkeit eines Bürgerkriegs ernsthaft diskutiert wird. Um dies zu klären, blickt Berg zurück auf die vergangenen sieben Jahrzehnte und arbeitet die politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Konfliktlinien seit den 1950er Jahren heraus.
Als der “liberale Konsens” in den 60er und 70er Jahren zerfällt
Drei Phasen hat Berg ausgemacht, in denen die amerikanische Gesellschaft auseinander driftet. In einer ersten Phase in den 60er und 70er Jahren sieht er jenen "liberalen Konsens", der die USA seit Präsident Franklin D. Roosevelt mit seinem New Deal geprägt habe, zerfallen. Der amerikanische Liberalismus, der eine starke Bundesregierung befürwortet, die im Interesse der arbeitenden Klassen die Wirtschaft reguliert sowie die Bürgerrechte fördert, habe in der ersten Hälfte der 60er-Jahren unter den demokratischen Präsidenten John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson mit der Bürgerrechtspolitik, der Aufhebung der Rassentrennung zwischen Schwarz und Weiß und der Reformagenda der "Great Society" zwar einen Höhepunkt erreicht, aber auch die politische Landkarte auf den Kopf gestellt. Die weiße Wählerschaft im Süden der USA, einst eine Hochburg der Demokraten, kehrte der Partei in Massen den Rücken und wandte sich den Republikanern zu.
Manfred Berg:
Das gespaltene Haus.
Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von 1950 bis heute.
C.H. Beck,
München 2024;
544 S., 35,00 €
Im Zuge der Kulturrevolution der 60er Jahre und dem Erstarken der Black-Power-Bewegung sowie des daraus resultierenden weißen Backlashs sieht Berg die Konsensdemokratie weiter erodieren. Zudem sei das Vertrauen vieler Amerikaner in ihr politisches Führungspersonal in Folge des Vietnamkriegs und der Watergate-Affäre von Präsident Richard Nixon erstmals massiv erschüttert worden.
Die Globalisierung und das Ende des Amerikanischen Traums
In der Globalisierung, die in den 80er und 90er Jahren an Fahrt gewinnt, erkennt Berg die zweite entscheidende Phase. Sie verhieß zwar einerseits ein Mehr an Wohlstand und individueller Freiheit, führte aber auch zur Deindustrialisierung ganzer Regionen im Nordosten und Mittleren Westen der USA. Das Versprechen des "American Dream" vom sozialen Aufstieg erfüllt sich für viele nicht mehr, die Einkommensunterschiede werden größer. Zugleich sieht die weiße Bevölkerung ihre Hegemonie durch eine rasant zunehmende Einwanderung bedroht und die Tonlage in den Debatten über Geschlechterfragen, Abtreibung oder den Besitz von Waffen, nimmt an Schärfe zu.
Den Beginn der dritten Phase setzt Berg mit dem Ende der Blütezeit des Neoliberalismus unter den Präsidenten Ronald Reagan und Bill Clinton an. Während der Präsidentschaften von George W. Bush und Barack Obama rückt die Republikanische Partei zunehmend nach rechts und gerät unter den Einfluss der Tea Party, weißer Nationalisten und religiöser Eiferer. Der Einzug Trumps ins Weiße Haus sei eben kein "Betriebsunfall in der amerikanischen Geschichte, sondern das Produkt einer jahrzehntelangen Polarisierung" in Politik und Gesellschaft gewesen.
Die Frage, ob die Amerikaner diesen Prozess der Polarisierung noch einmal umkehren können, lässt Berg offen. Abraham Lincoln hatte bereits 1858 mit einem Zitat aus dem Markus-Evangelium prophezeit, dass ein Haus, dass mit sich selbst uneins sei, nicht bestehen könne. Die Amerikaner, so gibt ihnen Berg mit auf den Weg, seien "gut beraten, sich auf die Mahnung ihres großen Präsidenten zu besinnen".
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