Piwik Webtracking Image

Neue EU-Kommission gewählt : Ungewöhnlicher Startschuss für die neue EU-Kommission

Das Europäische Parlament hat die neue EU-Kommission mit einer recht knappen Mehrheit von 370 Stimmen bestätigt – und überraschend keine Personalwechsel verlangt.

28.11.2024
True 2024-11-28T14:47:33.3600Z
4 Min

Knapp sechs Monate nach der Europawahl sind in Brüssel endlich alle Weichen für die Legislaturperiode gestellt: Das Europäische Parlament hat die neue EU-Kommission unter Führung von Ursula von der Leyen in letzter Minute bestätigt – nur vier Tage vor dem längst geplanten Start-Termin der Kommission am 1. Dezember. Die Umstände der Entscheidung waren ungewöhnlich: Erstmals seit vielen Jahren haben die Abgeordneten alle Personalvorschläge für die Besetzung der 26 Kommissars-Posten nach längeren Diskussionen ohne Einspruch abgesegnet, kein einziger Bewerber musste ausgetauscht werden – womit auch langgediente Parlamentarier anfangs nicht gerechnet hatten. 

Foto: EU/Dati Bendo

Die neue EU-Kommission kann starten: Unter der Führung von Ursula von der Leyen kann die 26-köpfige Kommission am 1. Dezember ihre Arbeit aufnehmen.

Dafür fiel die Mehrheit für die neue Kommission so knapp aus wie in den vergangenen drei Jahrzehnten nicht. Das Parlament votierte mit 370 von 688 abgegebenen Stimmen in Straßburg für das Team. 282 Abgeordnete stimmten dagegen, 36 enthielten sich. Die Zustimmung kam erneut überwiegend von der christdemokratischen EVP, den Sozialdemokraten (S&D) und den Liberalen (Renew), doch gab es auch dort Nein-Stimmen aus nationalen Delegationen. Die Grünen waren gespalten, ebenso die Mitglieder der gemäßigt rechten EKR-Fraktion - die extreme Rechte und die Linke-Fraktion im Parlament stimmten geschlossen gegen die Kommission. 

Die Abstimmung gibt einen Ausblick, wie kompliziert die Mehrheitssuche im neuen Parlament werden dürfte, auch wenn von der Leyen im Plenum versicherte, sie wolle im Schulterschluss „immer von der politischen Mitte aus arbeiten“

Rechtsaußenpolitiker Raffaele Fitto erhält Spitzenposten

Die Komplikationen haben mit dem Rechtsruck im Parlament bei der Europawahl zu tun. Als Zugeständnis an den größeren Einfluss, den die italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni über die Abgeordneten ihrer rechtspopulistischen Fratelli d´Italia nun ausüben kann, hatte Kommissionspräsidentin von der Leyen entschieden, den italienischen Kommissar Raffaele Fitto gleich zum Vizepräsidenten zu berufen – mit der Verantwortung auch für die milliardenschwere Regionalförderung. 

Dagegen regte sich Widerstand bei den Fraktionen links von den Christdemokraten, die die „Brandmauer gegen Rechts“ in Gefahr sahen. Fitto gilt zwar als proeuropäisch und durchaus kompetent, aber die Kritiker wehrten sich vehement dagegen, dass ein Rechtsaußen-Politiker die herausgehobene Position des Vizepräsidenten besetzt. 

EVP entschied Machtkampf für sich – vorerst

Doch die christdemokratische EVP hielt zu Fitto, der einst selbst der EVP-Familie angehört hatte – und drohte im Gegenzug, die Berufung der spanischen Sozialdemokratin Teresa Ribera als Kommissarin für Wettbewerbspolitik und grünen Wandel im Rang einer Vizepräsidentin zu verhindern. Daraus wurde ein heftiger Machtkampf, den die EVP für sich entschied: Als Kompromiss vereinbarten die Fraktionsvorsitzenden von Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen, die eine Art informelle Allianz zur Wahl von der Leyens gebildet hatten, in aller Eile eine Kooperationsvereinbarung für die weitere Parlamentsarbeit, die den Konflikt notdürftig befrieden und die Mehrheit für die Kommission sichern konnte. 

Foto: EP/Alain Rolland

Direkte Kritik: René Repasi (SPD) beklagte den Umgang der EVP mit "Vertretern einer postfaschistischen Partei".

Unter anderem die deutschen SPD-Abgeordneten verweigerten aber ihre Zustimmung. Ihr Sprecher René Repasi beklagte: „Erstmals in der Geschichte der gemeinschaftlichen EU-Institutionen erhält ein Vertreter einer postfaschistischen Partei eine Führungsposition“. Mit diesem „Kuschelkurs“ gefährde die EVP die Handlungsfähigkeit der EU, die Vertrauensgrundlage sei beschädigt. 

Der Sprecher der deutschen Unions-Abgeordneten, Daniel Caspary, warf der SPD daraufhin „politische Unaufrichtigkeit und Verantwortungslosigkeit“ vor, weil sie mit AfD, BSW und der Linken gegen die Kommission stimme. Das reihe sich ein in das Zögern und Zaudern von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), „das die europäischen Partner immer mehr zur Verzweiflung treibt“. 

Kritik auch an Vizepräsidentin Teresa Ribera

Verstimmungen gibt es aber nicht nur wegen Fitto. Konservative und rechte Abgeordnete werfen der neuen Vizepräsidentin Teresa Ribera vor, als bisherige spanische Umweltministerin Mitverantwortung zu tragen für die katastrophalen Folgen der schweren Überschwemmungen in der Region Valencia, auch ihre Zurückweisung stand vorübergehend im Raum. Nicht alle in der EVP finden Gefallen daran, dass die Sozialdemokratin eine sehr machtvolle Position einnimmt: Sie verantwortet nicht nur die Umsetzung des umstrittenen Green Deal zum ökologischen Umbau Europas, sondern auch die wichtige Wettbewerbsaufsicht. 

Große Erwartungen an Außenbeauftragte Kaja Kallas

Viel Misstrauen schlägt Gesundheitskommissar Olivér Várhelyi aus Ungarn entgegen, der ein Vertrauter von Ministerpräsident Viktor Orbán ist. 

Due neue EU-Außenbeauftragte der EU: Kaja Kallas, bislang Ministerpräsidentin Estlands.   Foto: EP/Laurie Dieffembacq

Várhelyi hatte sich schon als Erweiterungskommissar in der vergangenen Wahlperiode mit vielen Abgeordneten überworfen. Auf der linken Seite des Parlaments wurde seine Ablehnung verlangt – doch überwog am Ende die Sorge, dass Orbán dann die Nominierung eines neuen Kandidaten verzögern und so den Kommissionsstart ausbremsen würde, ersatzweise wurden Várhelyis Kompetenzen kurzfristig noch beschnitten. 

Große Erwartungen richten sich darauf, wie die neue EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas und der Verteidigungskommissar Andrius Kubilius ihre Rollen ausfüllen werden – Kubilius ist Pionier im neugeschaffenen Ressort, Kallas gilt als entschiedene Unterstützerin der Ukraine und derart harte Gegnerin Russlands, das Moskau einen Haftbefehl gegen sie ausgestellt hat. 

Kommissionspräsidentin von der Leyen macht Krise der Autoindustrie zur Chefsache

Von der Leyen machte im Parlament deutlich, dass sie mehr als bisher zentrale Themen zur Chefsache machen will: Sie kündigte an, sie werde sich persönlich um die Krise der Autoindustrie kümmern, dies werde zu einem Schwerpunkt ihrer Amtszeit. Geplant ist ein strategischer Dialog zur Zukunft der Autobranche unter Leitung der Präsidentin. „Die europäische Automobilindustrie ist ein Stolz Europas“, sagte von der Leyen, „Millionen von Arbeitsplätzen hängen von ihr ab.“ Als erste große Initiative werde die Kommission eine Strategie für mehr Wettbewerbsfähigkeit Europas vorlegen.

Der Autor ist EU-Korrespondent der Funke Mediengruppe.

Mehr zum Thema

Victor Negrescu am Rednerpult im EU-Parlament
EU-Haushalt 2025 steht: Einigung in schwierigen Zeiten
Der EU-Haushalt ist beschlossen: Mit fast 200 Milliarden Euro will Brüssel die Autonomie Europas stärken und Prioritäten bei Klimaschutz und Digitalisierung setzen.