Vorläufige Bilanz : Überstürzter Abzug aus Afghanistan
Kein Notfallplan und politische Fehleinschätzungen - so lautet die vorläufige Untersuchungsbilanz zum Geschehen im August 2021 in Afghanistan.
Bei der Problembeschreibung besteht weitgehende Einigkeit: In der Vereinbarten Debatte über die Arbeit des 1. Untersuchungsausschusses Afghanistan hat sich am Donnerstag gezeigt, dass alle Fraktionen, bis auf die AfD, insbesondere für die letzte Phase des Afghanistan-Einsatzes Mängel und Strukturprobleme feststellen.
Ausschuss sollte Licht ins Desaster rund um den Afghanistan-Abzug bringen
Der Ausschuss hatte den Auftrag, die Ereignisse in der Zeit zwischen dem Doha-Abkommen, mit dem die USA Ende Februar 2020 den Abzug internationaler Truppen aus Afghanistan mit den Taliban vereinbart hatten, und der chaotisch verlaufenen Evakuierungsoperation am Flughafen Kabul im August 2021 aufzuklären. Kurz: den Abzug der Bundeswehr und die Behandlung der afghanischen Ortskräfte durch die deutschen Behörden.
Nach dem Vormarsch der Taliban und der Einnahme Kabuls kam es im August 2021 am Flughafen der afghanischen Hauptstadt zu Gewalt und chaotischen Zuständen.
Der Ausschussvorsitzende Ralf Stegner (SPD), der mit seiner Rede die Debatte eröffnete, stellte fest, dass der Ausschuss diesen Auftrag "durch das außergewöhnliche Engagement aller Beteiligten" erfüllt habe, obwohl die Untersuchungszeit durch das Vorziehen der Bundestagswahl verkürzt wurde. Stegner warf dem Bundeskanzleramt unter der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mangelnde Steuerung und Abstimmung unter den Ministerien vor. Das habe zu "Fehleinschätzungen mit dramatischen Folgen" geführt. Zukünftig müssten außerdem die Ziele solcher Einsätze realistisch eingeschätzt werden.
Sein Parteikollege Jörg Nürnberger (SPD) ergänzte: die Bundesregierung habe die eskalierende Lage in Afghanistan zu spät erkannt und keinen belastbaren Notfallplan für ein Worst-Case-Szenario gehabt. Darunter hätten die Ortskräfte gelitten, weil das Ortskräfteverfahren nicht zügiger vereinfacht worden sei. Nürnberger forderte die Einführung "klarer Verantwortlichkeiten und schnellerer Entscheidungsprozesse".
Thomas Erndl (CSU) ging auf die Rolle des damals von SPD-Minister Heiko Maas geführten Auswärtigen Amtes ein. Das Amt habe zwar richtigerweise dafür gekämpft, das Doha-Abkommen nachträglich mit Bedingungen zu verknüpfen, habe aber einem Wunschdenken nachgehangen. Am Ende seien Wunschdenken und die Realität auseinandergefallen.
Vorwurf: Politik hatte keinen Einfluss auf den Zeitpunkt des Abzugs
Thomas Röwekamp (CDU) fasste die letzten eineinhalb Jahre in Afghanistan in vier Punkten zusammen. Die deutsche Politik habe keinen Einfluss auf den Zeitpunkt des Abzugs gehabt, gleichwohl habe die Bundeswehr ihren Auftrag erfüllt und ihren eigenen Abzug perfekt organisiert. Deutschland habe sich jedoch nicht hinreichend um die Ortskräfte gekümmert. Vierter Punkt: Niemand habe diese Entwicklungen vorausgesehen.
Die Parteien, die damals auf den Oppositionsbänken saßen, gingen in ihren Urteilen weiter. Die Grünen-Abgeordnete Sarah Nanni sagte, "die dramatischen Bilder" im August 2021 wären, trotz des "de facto Kapitulationsabkommens" des damaligen US-Präsidenten Donald Trump, zu vermeiden gewesen, denn die Bundesregierung habe gewusst, welche Folgen das Abkommen haben würde. “Es war ein Problem der mangelnden politischen Aufmerksamkeit.” Ann-Veruschka Jurisch (FDP) betonte, Deutschland sei von den Informationen und Kapazitäten der USA abhängig. "Wir brauchen ein strategisches Frühwarnsystem, robuste Strukturen und Prozesse", sagte sie “Wir brauchen einen Nationalen Sicherheitsrat.”
Für Stefan Keuter (AfD) steht fest, dass Ex-Kanzlerin Merkel und Ex-Außenminister Maaß gelogen haben. Er äußerte außerdem den Verdacht, dass das Parlament bewusst getäuscht worden sei und "mit dem Leben unserer deutschen Landsleute" gespielt wurde. Weiterhin seien die Ortskräfte nie gefährdet gewesen. Diese These sieht er durch die Aussagen der Taliban bestätigt. Keuter vertrat zudem die Auffassung, dass die Luftwaffe verfassungswidrig zum Transport von ausländischen Zivilisten eingesetzt wurde. Darüber hinaus unterstellte er dem Vorsitzenden Stegner, den Ausschuss in ein "Zeugenschutzprogramm zu verwandeln". E-Mails und Dokumente des Auswärtigen Amtes seien unterschlagen worden, kritisierte Keuter. Vertreter der anderen Fraktionen wiesen diese Vorwürfe zurück.
Linke: Keine Zusammenarbeit mit den Taliban
Die Linken-Abgeordnete Clara Bünger, die Teil des Ausschusses war, bis Die Linke ihren Fraktionsstatus verlor, warf der damaligen Bundesregierung vor, ihre afghanischen Verbündeten im Stich gelassen zu haben. Das sei politisches Versagen gewesen. Dass heute Menschen nach Afghanistan abgeschoben würden, sei beschämend. Mit den Taliban sollte nicht zusammengearbeitet werden.
Am Freitag beriet der Bundestag zudem über den Abschlussbericht, den die Enquete-Kommission "Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands" am Beginn der Woche vorgelegt und Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) überreicht hatte. Das über 100 Seiten umfassende Dokument enthält 72 Empfehlungen an Bundesregierung und Bundestag, wie der deutsche Beitrag zum internationalen Krisenmanagement - vor dem Hintergrund der Erfahrungen in Afghanistan sowie angesichts sich wandelnder sicherheitspolitischer Herausforderungen - in Zukunft aussehen sollte.
Enquete-Kommission schlägt unter anderem gemeinsames Lagezentrum vor
Nach Einschätzung der Enquete-Kommission sollte Deutschland dem internationalen Krisenmanagement weiter eine hohe Bedeutung beimessen und sich auch in Zukunft an Einsätzen beteiligen - trotz der jüngsten Rückbesinnung auf die Landes- und Bündnisverteidigung sowie der Fokussierung auf neue Herausforderungen wie die Abwehr von Cyberangriffen, Desinformationskampagnen und Sabotageaktivitäten.
Die Kommission schlägt konkret vor, einen "neuen Kabinettsausschuss einzurichten oder den sicherheitspolitischen Jour Fixe auf Ebene der Staatssekretäre auszuweiten und zu intensivieren". In einem "gemeinsamen Lagezentrum" sollten dabei dann "strategische Lagebilder, Analysen und Prognosen zu einem ressortübergreifenden Gesamtbild zusammengeführt" werden.