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Foto: picture alliance/dpa
Neu eingebürgerte Menschen im April 2024 auf dem Landtagsvorplatz in Dresden: Die Erleichterungen beim Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit waren ein wichtiger Baustein in der Migrationspolitik der Ampelkoalition.

Migrationspolitik der Ampelkoalition : Der "Paradigmenwechsel" steht unter Druck

In der Migrationspolitik versprachen SPD, Grüne und FDP einen Neuanfang. Ein Rückblick auf die wichtigsten Gesetzespakete der Ampelkoalition.

18.10.2024
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7 Min

Der kleine Schlagabtausch zwischen Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Unions-Fraktionsvize Andrea Lindholz (CSU) im Bundestag liegt nicht einmal zwei Jahre zurück: Damals beklagte Lindholz im November 2022, dass es in jenem Jahr schon 160.000 Asylbewerber zusätzlich zu rund 1,1 Millionen ukrainischen Kriegsflüchtlingen gebe und man sich also in einer "massiven Migrationskrise" befinde. Die Ressortchefin reagierte direkt: "Wir haben keine große Migrationskrise", betonte Faeser und warf Lindholz vor, mit ihrer Bemerkung die Gesellschaft zu spalten und die AfD zu stärken.

Darum ging es im Herbst 2023

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Ein knappes Jahr danach, im September 2023, klagte die Union im Bundestag erneut über "explodierende Asylzahlen" und einen "Höchststand illegaler Einreisen", doch kam diesmal von der Ministerin ein anderes Signal: Gefragt, wie es in einer solchen Situation einen Referentenentwurf in ihrem Ministerium geben könne, "der weiteren Familiennachzug nach Deutschland zu subsidiär Geschützten ermöglicht, einen Nachzug von weiteren 100.000 Personen", dementierte Faeser damals einen Medienbericht, die im Koalitionsvertrag angekündigten Erleichterungen beim Familiennachzug zu subsidiär geschützten Flüchtlingen nunmehr umsetzen zu wollen: Sie habe "nicht vor, im Moment den Familiennachzug vorzulegen", antwortete sie und trat das Vorhaben damit erstmal in die Tonne. Ein Sprecher ihres Hauses wurde anschließend mit den Worten zitiert, dass angesichts der aktuellen Lage in den Kommunen Erleichterungen beim Familiennachzug keine Priorität hätten - wichtig seien derzeit Steuerung und Begrenzung der irregulären Migration.

Koalition bewegt sich im Spannungsfeld der Migrationspolitik

Die beiden Szenen verdeutlichen schlaglichtartig das Spannungsfeld, in dem sich die Migrationspolitik der Ampelkoalition seit ihrem Antritt bewegt. Als SPD, Grüne und FDP Anfang Dezember 2021 ihren Koalitionsvertrag unterschrieben, kündigten sie darin einen "Neuanfang" in der Migrationspolitik an mit Erleichterungen beispielsweise beim Bleiberecht, beim Familiennachzug, bei der Einbürgerung.

Bis die Koalitionäre ihren Vertrag Anfang Dezember unterschrieben, waren im Jahr 2021 knapp 135.000 neue Asylerstanträge in Deutschland gezählt worden. 2022 stieg diese Zahl auf fast 218.000 weitere Erstanträge und 2023 nochmals um mehr als 51 Prozent auf gut 329.000; daneben waren mehr als eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen das Land in der Bundesrepublik aufgenommen worden. Die Migrationspolitik der Ampelkoalition, deren Partner in Zuwanderungsfragen ohnedies teils deutlich auseinanderliegen, geriet durch diese Entwicklung immer mehr unter Druck. Die auch ohne die Ukraine-Flüchtlinge wieder deutlich angestiegenen Zuwanderungszahlen bringen nicht nur die Kommunen an Kapazitätsgrenzen, sondern überlagerten auch immer mehr den von der Koalition verfolgten "Paradigmenwechsel".

Dabei ging es auch um neue Rahmenbedingungen für Menschen, die bereits seit Jahren oder Jahrzehnten in Deutschland leben, aber auch - nach dem Motto "weniger irreguläre Migration, mehr legale Einwanderung " - um neue Zuwanderung in ein Land, das nicht zuletzt angesichts des demografischen Wandels zunehmend unter Arbeitskräftemangel leidet.

Erleichterungen beim Aufenthaltsrecht und bei der Fachkräftezuwanderung

Den Anfang machte ein Ende 2022 von der Koalition im Bundestag durchgesetztes "Migrationspaket", das neben dem "Chancen-Aufenthaltsrecht" weitere Erleichterungen beim Bleiberecht beinhaltete. Das 18-monatige Chancen-Aufenthaltsrecht sollte den mehr als 137.000 Ausländern, die am 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren oder länger geduldet in Deutschland gelebt haben, ermöglichen, die Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu erfüllen, etwa die Sicherung des Lebensunterhalts, Kenntnisse der deutschen Sprache und der Identitätsnachweis. Nach einer Befragung des "Mediendienstes Integration" vom Januar dieses Jahres hatten im Jahr 2023 mindestens 75.000 Menschen den Chancen-Aufenthalt beantragt; die Angabe beruht auf Zahlen von nur elf der 16 Bundesländern, weshalb die Gesamtzahl der Antragsteller deutlich höher sein dürfte, zumal ein Antrag für Angehörige mitgestellt und daher mehrere Personen umfassen kann.

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Vor der Sommerpause 2023 verabschiedete der Bundestag das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz der Ampel-Koalitionäre, nachdem das Migrationspaket auch hier schon Erleichterungen enthielt. Um in Deutschland arbeiten zu dürfen, wenn ein Arbeitsvertrag existiert, reicht es danach aus, im Ausland eine zweijährige Berufsausbildung absolviert zu haben und darüber hinaus mindestens zwei Jahre Berufserfahrung nachweisen zu können. Das Gesetz ermöglicht zudem Asylbewerbern, die vor Ende März 2023 eingereist sind, einen "Spurwechsel": Sie können bei entsprechender Qualifikation und einem Arbeitsplatzangebot oder einem bereits aufgenommenen Arbeitsverhältnis eine Aufenthaltserlaubnis als Fachkraft beantragen, ohne zuvor ausreisen und ein Visumverfahren durchlaufen zu müssen.

Verschärfte Regeln für Herkunftsstaaten und Rückführungen

Zu den restriktiven Maßnahmen der Koalition zählte dagegen im November 2023 die Einstufung von Georgien und Moldawien als asylrechtlich sicherer Herkunftsländer, mit der der Gesetzgeber die Liste solcher Staaten erstmals seit Jahren erweiterte. Bei so eingestuften Staaten wird gesetzlich davon ausgegangen, dass dort generell keine staatliche Verfolgung zu befürchten ist, wodurch Asylverfahren ihrer Angehörigen schneller bearbeitet werden können. Keine Mehrheit fand sich dagegen aufgrund des Widerstandes namentlich der Grünen dafür, in die Liste auch die drei Maghreb-Staaten Algerien, Marokko und Tunesien aufzunehmen - eine Forderung, die die FDP-Fraktion erst in der vergangenen Woche erneut bekräftigte.

Angesichts der hohen Asylbewerberzahlen beschloss das Parlament dann im Januar 2024 den Gesetzentwurf der Regierungskoalition “zur Verbesserung der Rückführung”, der für mehr Abschiebungen aus Deutschland sorgen sollte; einen Tag danach folgte die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Ein Kernpunkt dieser Reform ist die generelle Hinnahme von Mehrstaatigkeit. Daneben wurden die Fristen für die vor einer Einbürgerung erforderliche Aufenthaltsdauer in Deutschland verkürzt, in der Regel von acht auf fünf Jahre, und die sogenannte Optionsregelung vollständig gestrichen.

Koalition setzt erleichterte Einbürgerung durch

Voraussetzung für eine Einbürgerung ist der Neuregelung zufolge das Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes; antisemitische, rassistische oder sonstige menschenverachtende Handlungen schließen eine Einbürgerung aus. Sogenannte Gastarbeiter und einstige DDR-Vertragsarbeitnehmer müssen zudem keinen Einbürgerungstest absolvieren und lediglich mündliche deutsche Sprachkenntnisse nachweisen.

Zum Kern des "Rückführungsverbesserungsgesetzes zählen unter anderem erweiterte Durchsuchungsmöglichkeiten und eine Ausdehnung des Ausreisegewahrsams von zehn auf 28 Tage. Betroffenen in Verfahren zur Abschiebungshaft oder Ausreisegewahrsam muss ein Pflichtverteidiger zur Seite gestellt werden. Abschiebungen müssen nicht mehr angekündigt werden, sofern nicht Familien mit Kindern unter zwölf Jahren betroffen sind.

Die Suche nach Daten und Dokumenten zur Identitätsklärung wurde mit der Neuregelung erleichtert, ebenso das Auffinden abzuschiebender Personen. Dazu können die Behörden auch andere Räumlichkeiten als das Zimmer des abzuschiebenden Ausländers in einer Gemeinschaftsunterkunft betreten. Daneben enthält das Gesetz weitere Maßnahmen etwa zur erleichterten Abschiebung von Straftätern und Gefährdern. Zugleich wurde die Bezugsdauer der niedrigeren Asylbewerberleistungen von bislang 18 Monaten auf nunmehr drei Jahre verlängert.

Asylzahlen sind in diesem Jahr rückläufig

Bei den Asylzahlen konnte die Koalition im laufenden Jahr mit gut 179.000 Erstanträgen in den ersten neun Monaten im Vergleich zum entsprechenden Vorjahreszeitraum einen Rückgang um mehr als 23 Prozent verbuchen. Derweil kam Faeser schrittweise auch den Oppositionsforderungen nach verstärkten Grenzkontrollen nach, die sie schließlich im September 2024 für alle deutschen Landgrenzen anordnete - für zunächst sechs Monate. Sie machte indes deutlich, dass es dabei bleiben kann, bis man "mit dem neuen Gemeinsamen Europäischen Asylsystem und weiteren Maßnahmen zu einem starken Schutz der EU-Außengrenzen" kommt.

Asylpolitik der Ampel

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Den Mitte 2023 gefundenen Kompromiss der EU-Innenminister auf einen Reformvorschlag für das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) zählt die Koalition zu den großen Erfolgen Faesers in der Migrationspolitik. Im April dieses Jahres hatte das Europäische Parlament der Verschärfung des EU-Asylrechts zugestimmt. Mit der Reform sollen die Mitgliedstaaten zu einheitlichen Verfahren an den Außengrenzen verpflichtet werden, damit rasch festgestellt wird, ob Asylanträge unbegründet sind und die Geflüchteten dann schneller und direkt von der Außengrenze abgeschoben werden können. Vergangene Woche legte Faeser Referentenentwürfe für die nationalen Umsetzungsgesetze zu der Reform vor.

Auf internationaler Ebene setzt die Ampel-Koalition zudem auf bilaterale "Migrationsabkommen", mit denen dem Fachkräftemangel entgegengewirkt und irreguläre Migration begrenzt werden sollen. Dazu hat die Bundesregierung den FDP-Politiker Joachim Stamp (FDP) als Sonderbevollmächtigten eingesetzt; Migrationsabkommen oder Verhandlungen darüber gibt es mittlerweile etwa mit Indien, Georgien, Moldau, Usbekistan, Kirgisistan, Kenia, Kolumbien, Marokko, Ghana und den Philippinen.

An den Grenzen wird zurückgewiesen

Gerne verweist Faeser auch darauf, dass es bei den aktuell durchgeführten Grenzkontrollen seit Oktober 2023 zirka 30.000 Zurückweisungen gegeben habe. Etwas gestiegen war zuletzt auch die Zahl der Abschiebungen aus Deutschland. Sie lag laut Bundesregierung im vergangenen Jahr bei rund 16.500 nach knapp 13.000 im Jahr 2022; im ersten Halbjahr 2024 waren es fast 9.500 Abschiebungen. Zugleich konnten indes im Jahr 2023 fast 31.500 Abschiebungen nicht vollzogen werden und in den ersten sechs Monaten dieses Jahres rund 14.600.

Das rächte sich zuletzt bitter bei dem mutmaßlich islamistischen Messerattentat von Solingen vom 23. August dieses Jahres, bei dem drei Menschen ums Leben kamen und weitere acht teilweise lebensgefährlich verletzt wurden. Der syrische Tatverdächtige hatte in Deutschland subsidiären Schutz erhalten, nachdem im Juni 2023 eine Abschiebung des abgelehnten Asylbewerbers nach Bulgarien gescheitert war.

„Sicherheitspaket“ nach dem Anschlag von Solingen

Solche Gewaltdelikte ausländischer Tatverdächtiger wie beispielsweise der tödliche Anschlag auf einen 29-jährigen Polizisten durch einen abgelehnten Asylbewerber aus Afghanistan in Mannheim Ende Mai erhöhen den Handlungsdruck auf die Politik. So präsentierte die Bundesregierung nur sechs Tage nach der Tat von Solingen ihr "Sicherheitspaket", das neben einer Verschärfung des Waffenrechts Maßnahmen zur Bekämpfung irregulärer Migration und des Islamismus vorsieht. Zu den Kernpunkten zählen dabei ein allgemeines Verbot von Messern auf öffentlichen Veranstaltungen, ein Leistungsausschluss von Asylbewerbern, für die nach den sogenannten Dublin-Regeln ein anderes EU-Land zuständig ist, und die Befugnis von Sicherheitsbehörden zum biometrischen Abgleich öffentlich zugänglicher Internetdaten bei Terror-Ermittlungen. 

Nach einer Expertenanhörung verständigten sich die Koalitionsfraktionen vergangene Woche auf Einschränkungen bei dem Maßnahmenkatalog, der Kritikern vor allem bei SPD und Grünen gleichwohl viel zu weit geht. Auch wenn das Gesetzespaket am Freitag im Bundestag mit Koalitionsmehrheit verabschiedet wurde, dürfte das Regierungsbündnis bei der Migrationspolitik in schwerem Fahrwasser bleiben.

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