![Wolodymyr Selenskyj Der Staatspräsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj bei der Rede im Bundestag.](/fileadmin/_processed_/6/a/csm_Wolodymyr-Selenskyj_3514a35969.webp)
Zeitenwende in Deutschland : Die Welt ist nicht mehr dieselbe wie zuvor
Vom Schock zur Neuausrichtung: Wie Russlands Einmarsch in die Ukraine die Außen-, Verteidigungs- und Energiepolitik erschüttert hat und zu Kurswechseln zwang.
Inhalt
Es ist eine Fehleinschätzung unter vielen in Deutschland, aber sie ist eine der markantesten: Russland habe faktisch kein Interesse, in die Ukraine "einzumarschieren", so sagte dies die damalige Linken-Abgeordnete Sahra Wagenknecht (heute BSW) in der ARD am 20. Februar 2022. "Wir können heilfroh sein, dass Putin nicht so ist, wie er dargestellt wird: ein durchgeknallter Nationalist, der sich berauscht, Grenzen zu verschieben."
Als der hier angesprochene russische Präsident wenige Tage später dann aber doch die Panzerkolonnen in die Ukraine schickte und das Land unter grauenvollen Raketenbeschuss nehmen ließ, war das Entsetzen insbesondere in Deutschland groß. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine am 24. Februar 2022 markierte einen Bruch mit der Ordnung in Europa nach 1989: Der Grundkonsens, Grenzen nicht mit Gewalt zu verschieben, war offenkundig aufgekündigt. Für die auf preiswertes russisches Erdgas und Öl als Brücken-Energieträger setzende deutsche Politik, die sich in größeren Teilen über Jahre ja zugute gehalten hatte, die berühmten "Drähte" und "Gesprächsfäden" nach Moskau nicht abreißen zu lassen, war das ein Schock. Die Friedensdividende, von der Deutschland nach 1989 so oft profitiert hatte, war perdu.
Dabei waren Warnzeichen für das russische Abgleiten in Gewalt und Diktatur eigentlich nicht zu übersehen. Sie reichten von Besetzung und Annexion der ukrainischen Krim 2014 und dem Anfeuern eines Bürgerkriegs im Osten der Ukraine über Auftragsmorde im Westen bis hin zur Vergiftung russischer Oppositioneller zu Hause. Bereits im Sommer 2021 hatte Russland für die ganze Welt offen sichtbar massiv Truppen an der Westgrenze zur Ukraine aufmarschieren lassen. Und im Dezember 2021 übergab Moskau eine Offerte an Washington zur Neuordnung Europas, die de facto einen Rückzug der Nato auf die Grenzen des Bündnisgebietes im Jahr 1997 hinauslaufen würde.
Februar 2022: Der Kanzler ruft im Bundestag die Zeitenwende aus
Von einer "Zeitenwende" hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in einer Sondersitzung des Bundestags wenige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 gesprochen. "Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor." Die damals noch junge Ampel-Koalition von Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen stellte diese Zeitenwende vor vielfache Herausforderungen - von der Außen- und Verteidigungspolitik über die Waffenhilfe und Solidarität für die Ukraine bis zur bangen Frage nach den gespeicherten winterlichen Gas-Reserven und dem Ende der noch im Bau befindlichen zweiten Nordstream-Pipeline.
Zeitenwende, das bedeutet fortan auch Sorge vor unverhohlenen Atomdrohungen aus Moskau, Sorge auch vor steigenden Verbraucherpreisen und um den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland. Nicht zuletzt bewirkte diese Zeitenwende auch einen ehrlicheren Blick auf Ausstattung und Zustand der Bundeswehr, die über Jahrzehnte auf eine Armee für Auslandseinsätze getrimmt worden war, bei der Landesverteidigung aber erschreckende Lücken aufwies. Eine erste Antwort lieferte Scholz in dieser sonntäglichen Sondersitzung unter der Reichstagskuppel mit der Ankündigung einer kräftigen Finanzspritze für die Bundeswehr: Ein "Sondervermögen", für das sich der Bund um 100 Milliarden Euro verschulden sollte und das dann auch von der oppositionellen Union mitgetragen wurde.
Bereits zwei Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hatte sich der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, in einem bemerkenswerten Statement geäußert, das das Dilemma der deutschen Verteidigungspolitik auf den Punkt brachte: "Ich hätte in meinem 41. Dienstjahr im Frieden nicht geglaubt, noch einen Krieg erleben zu müssen. Und die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da." Und er fügte an: "Die Optionen, die wir der Politik zur Unterstützung des Bündnisses anbieten können, sind extrem limitiert." Wirklich überrascht hätte eigentlich niemand sein dürfen über diese Äußerungen. Seit Jahren war bekannt, dass die Bundeswehr unterfinanziert und unzureichend ausgerüstet ist und es ihr obendrein an Soldaten mangelt.
Das Sondervermögen Bundeswehr kommt - und neue Waffen für die Truppe
Im Juni 2022 verankerten Bundestag und Bundesrat schließlich mit der jeweils benötigten Zweidrittel-Mehrheit das "Sondervermögen Bundeswehr" im Grundgesetz, eine einmalige Kreditermächtigung in Höhe von bis zu 100 Milliarden Euro für die Beschaffung von neuer Ausrüstung für die Bundeswehr. Mit diesem Geld sollte zudem sichergestellt werden, dass die Bundesrepublik wie von Kanzler Scholz versprochen, zumindest für fünf Jahre zwei Prozent des Bruttoinlandproduktes für Verteidigung ausgeben kann. Auf dieses Ziel hatte sich die Nato zwar bereits 2014 verständigt, erfüllt hatte Deutschland dieses Ziel allerdings nie.
Doch bereits bei der Aufstellung des Wirtschaftsplanes für das Sondervermögen, aus dem hervorgeht, welche Waffensysteme für die Bundeswehr beschafft werden sollen, kamen Zweifel auf, ob die 100 Milliarden Euro ausreichen werden, um all die identifizierten Fähigkeitslücken der Truppe zu schließen. Ebenso schnell wurde deutlich, dass dies nicht nur sehr viel Geld verschlingen würde, sondern auch viele Jahre dauern würde - und dies, obwohl die Bundesregierung beschloss, verstärkt marktverfügbare Waffensysteme wie etwa den Kampfjet F-35 oder den schweren Transporthubschrauber CH-47 Chinook in den USA zu beschaffen.
Schon Mitte Januar 2023 brachte die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl, eine Erhöhung des Sondervermögens auf 300 Milliarden Euro in die Diskussion. Allein für die Auffüllung der leeren Munitionsdepots standen zweistellige Milliardenbeträge im Raum. Überhaupt ist bis heute völlig unklar, wie das Zwei-Prozent-Ziel der Nato erfüllt werden soll, wenn die 100 Milliarden Euro ausgegeben sind. Der reguläre Verteidigungshaushalt von aktuell rund 52 Milliarden Euro müsste auf annähernd 80 Milliarden Euro steigen.
Sollbruchstelle in der Ampel: Heftige Diskussionen über militärische Hilfe für die Ukraine
Zeitgleich zu Högls Äußerungen forderte die Zeitenwende mit dem Rücktritt von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) wegen ihres ungeschickten Agierens ein erstes politisches Opfer. Bereits ihre Ankündigung kurz vor Kriegsausbruch, die Ukraine mit 5.000 Gefechtshelmen unterstützen zu wollen, erschien angesichts der russischen Bedrohung der Ukraine als geradezu lächerlich.
Überhaupt offenbarten die sich anschließende monatelangen Diskussionen über die Lieferung von Waffen an die Ukraine eine gefährliche Sollbruchstelle in der Ampelkoalition. Während sich Grüne und FDP offensiv für die Lieferung auch von schweren Waffen aussprachen, zeigte sich die SPD und Kanzler Scholz in dieser Frage zunächst höchst zurückhaltend. Ganz gleich, ob es um die dann doch erfolgten Lieferungen von Panzerhaubitzen, Schützen- oder Kampfpanzern ging, beharrte Scholz auf seiner Haltung, nur jene Systeme zu liefern, die auch von anderen Nato-Staaten, vor allem den USA, geliefert werden.
Zudem begründete Scholz seine Haltung damit, Deutschland dürfe in keinem Fall zur Kriegspartei werden. Inzwischen ist die Bundesrepublik nach den USA jedoch zu einem der größten Unterstützer der Ukraine bei Waffenlieferungen und der Ausbildung ukrainischer Soldaten geworden. Für ein Land, dass sich stets der Maxime verschrieben hatte, keine Waffen an kriegsführende Nationen außerhalb des Nato-Bündnisses zu liefern, stellt dies ohne Zweifel eine Zeitenwende dar. Bei der Frage nach einer Lieferung der weitreichenden Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine blieb Scholz bis zuletzt bei seinem kategorischen Nein.
![Amtseid von Boris Pistorius Bärbel Bas und Boris Pistorius bei dessen Amtseid](/fileadmin/_processed_/0/7/csm_Pistorius-Vereidigung_a220278fa2.webp)
Der Nachfolger stand schnell fest: Am 19. Januar übernahm der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD).
Mit Lambrechts Nachfolger Boris Pistorius (SPD) änderte sich schließlich nicht nur die Tonlage. Der neue Verteidigungsminister scheute sich nicht, der Nation zu verkünden, dass die Bundeswehr angesichts der russischen Bedrohung "kriegstauglich" werden müsse. Und Pistorius entfachte die Debatte über eine Reaktivierung der Wehrpflicht. So sollen alle männlichen Jugendlichen bei Erreichen des 18-Lebensjahres einen Fragebogen ausfüllen müssen mit Angaben zu ihrer körperlichen Fitness und einer möglichen Bereitschaft für einen Wehrdienst. Die Gesetzesvorlage passierte zwar Ende 2024 noch das Kabinett, wurde aber nicht mehr im Bundestag beraten.
Vorläufiger Höhepunkt der Zeitenwende ist für die Bundeswehr aber die dauerhafte Stationierung einer kampfstarken Brigade mit rund 5.000 Soldaten in Litauen zur Sicherung der Nato-Ostflanke.
Als Energie zur Waffe wurde: Zeitenwende durch Energiekrise
Eine Zeitenwende bedeutete der Überfall Russlands auf die Ukraine und seine Folgen auch für die Energiepolitik in Deutschland. Vor allem nach dem Stopp russischer Gaslieferungen ab August 2022 bekam die Energiewende eine weitere Begründung: Jetzt ging es beim sogenannten Oster- und Sommer-Paket von Klimaschutz-Minister Robert Habeck (Grüne) nicht mehr nur um den beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren Energien Wind und Sonne, ging es nicht mehr nur darum, das Erreichen des Ziels von 100 Prozent klimaneutralem Strom bis 2023 erreichbar zu machen - sondern jetzt ging es akut auch darum, sich aus der Energieabhängigkeit von Russland zu befreien.
Die Energieversorgungssicherheit für Bürger und Unternehmen zu gewährleisten, hatte höchste Priorität. Der Ausbau der Windenergie wurde deutlich vorangebracht, im Süden boomte die Photovoltaik.
Appelle der Bundesnetzagentur zum Energiesparen waren das eine (die Bevölkerung sparte im Winter 2022/2023 rund 20 Prozent des üblichen Gasverbrauchs). Auf der anderen Seite wurden zahlreiche gesetzliche Maßnahmen ergriffen und nach Alternativen zur russischen Gasversorgung gesucht, die sich nicht nur auf den Ausbau der Erneuerbaren fokussierten. Im Gegenteil. Die Bundesregierung rief die zweite von drei Eskalationsstufen des Notfallplans Gas aus. "Die Lage ist ernst, und der Winter wird kommen", sagte Habeck zur Begründung: "Wir dürfen uns nichts vormachen: Die Drosselung der Gaslieferungen ist ein ökonomischer Angriff Putins auf uns".
Suche nach neuen Energiequellen und Ausbau von LNG-Terminals an deutschen Küsten
Um einer drohenden Gasmangellage im Winter zu begegnen, wurde das Energiewirtschaftsgesetz novelliert und um ein Gesetz erweitert, das dafür sorgte, dass die Gasspeicher sich wieder füllten. Habeck hatte ein Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht, damit der Gasverbrauch in der Industrie sinkt und Gas stattdessen eingespeichert werden konnte. Zugleich wurden stillgelegte Öl- und Kohlekraftwerke wieder hochgefahren und nach einigem Hin und Her sogar die Laufzeiten für die letzten drei aktiven Atomkraftwerke um dreieinhalb Monate verlängert.
Das Energiesicherheitsgesetz wurde gleich mehrmals reformiert, unter anderem, um zu ermöglichen, dass die PCK-Raffinerie in Schwedt, die dem russischen Rosneft-Konzern gehörte, unter staatliche Treuhandverwaltung kam. Neue Energiequellen wurden gesucht: Mit dem Gesetz "zur Beschleunigung des Einsatzes verflüssigten Erdgases" wurde der Ausbau von LNG-Terminals an deutschen Küsten beschleunigt, um Flüssiggas aus den USA beziehen zu können.
Eine Strom- und eine Gaspreisbremse sollten Bürger und Unternehmen angesichts rasant gestiegener Preise ebenso entlasten wie ein 200-Milliarden-Euro-Abwehrschirm zur Abfederung der hohen Energiepreise. Manche Maßnahme funktionierte, manche nicht. Im März 2024 erklärte Habeck die Energiekrise für beendet. Die Energieversorgung sei in jeder Hinsicht sicher.
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Der Bundestag ratifiziert ein Abkommen mit Litauen über die Stationierung einer kampfstarken Brigade mit rund 5.000 Soldaten. Bis 2027 soll sie einsatzbereit sein.
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Über zwei Jahre hat der Journalist Christian Schweppe die sogenannte Zeitenwende und ihre Protagonisten begleitet. Beobachtet hat er vor allem viel Mutlosigkeit. Streit um Ukraine-Hilfen: Koalition enthält sich
Im Bundestag machen Union und FDP den Weg frei für drei Milliarden Euro an Waffenhilfen für die Ukraine. Abgeordnete von SPD und Grünen enthielten sich der Stimme.